Nils Schmid: Bietigheimer Rede

Im Folgende eine Rede von Nils Schmid, die dieser beim "Bietigheimer Tag 2010 - Das Gespräch zwischen Evangelischer Kirche und Sozialdemokratischer Partei Deutschlands" gehalten hat.

Der Bietigheimer Tag 2010 fand am Sonntag, 18. April 2010, um 10 Uhr, in der evangelischen Stadtkirche Bietigheim statt.

Der Sozial(e) Markt, eine Rede von Nils Schmid

Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen in öffentlicher, freigemeinnütziger oder privater Trägerschaft zählen inzwischen zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen in der Bundesrepublik Deutschland. Sie setzen jährlich circa 152 Milliarden Euro um. Das sind rund sieben Prozent der gesamten Bruttowertschöpfung. Somit nimmt das Sozial- und Gesundheitswesen den vierten Platz unter allen Wirtschaftssektoren ein. Allein bei der Freien Wohlfahrtspflege sind bundesweit etwa 1,4 Millionen hauptamtliche Mitarbeitende tätig; das sind 3,6 Prozent aller Erwerbstätigen in der Bundesrepublik Deutschland.

Gerade das letzte Kalenderjahr hat uns gezeigt, wie krisenfest der Bereich der sozialen Arbeit inzwischen geworden ist. Während in Baden-Württemberg 2009 60.000 Arbeitsplätze im produzierenden Bereich wegfielen, ist die Zahl der Arbeitsplätze vor allem im Bereich der Pflege in der Wirtschafts- und Finanzkrise sogar noch gestiegen. Allein vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2009 ist die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Wirtschaftsbereich „Sozialwesen“ in Baden-Württemberg von 117.000 auf 155.000 gestiegen. Der Anteil an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten wuchs im selben Zeitraum von 3,1 auf 4,0 Prozent.

Der Markt, das ist der Treffpunkt von Angebot und Nachfrage. Das gilt ganz klar auch für den Bereich der sozialen Hilfen, würde - so glaube ich - jede frische Absolventin und jeder frische Absolvent des Studienganges Sozialmanagement heute bekräftigen.

Viele von Ihnen, die heute nach Bietigheim gekommen sind, haben dies noch anders gelernt oder haben bei dem Tagesthema mindestens ein Grummeln im Bauch. Gerade die Letztgenannten fragen sich, wie denn die menschliche Zuwendung in Euro bestimmt werden kann oder wie die Grundannahmen über Erziehungsmethoden in Vergütungsverhandlungen einfließen sollen. Ich möchte deshalb einige der wesentlichen Schritte auf dem Weg zum Status quo ansprechen.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1967
Es waren insbesondere Vertreter meiner Partei, die in den 60er Jahren gegen die Regelungen des Paragraphen 5 des Jugendwohlfahrtsgesetz vor das Bundesverfassungsgericht zogen, weil sie der Auffassung waren, dass dieser das Sozialstaatsprinzip und das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung verletze. Die kritisierte Passage lautete: "Soweit geeignete Einrichtungen und Veranstaltungen der Träger der freien Jugendhilfe vorhanden sind, erweitert oder geschaffen werden, ist von eigenen Einrichtungen und Veranstaltungen des Jugendamts abzusehen." Das Bundesverfassungsgericht wies mit seinem Urteil vom 
18. Juli 1967 die Klage ab, weil die Regelung nach seiner Interpretation der freien Jugendhilfe nicht schlechthin einen Vorrang einräumen wolle, sondern durch das Zusammenwirken der Träger eine möglichst erfolgreiche Jugendhilfe unter Beachtung des koordinierten Einsatzes öffentlicher und privater Mittel anstrebe. Aus der Regelung ergebe sich keine Funktionssperre für den öffentlichen Träger; vielmehr sei die Regelung ein Instrument zur vernünftigen Aufgabenverteilung zwischen den Trägergruppen, um dadurch ein bedarfsentsprechendes und zugleich wirtschaftliches Angebot an Einrichtungen zu schaffen.

Was in der katholischen Soziallehre als Subsidiaritätsprinzip und später auch in der evangelischen Sozialethik als Gemeinwohlpluralismus bezeichnet wird, stellte beim Ausbau des Sozialstaates in den 70er und 80er Jahren die Weichen in eine ganz andere Entwicklung, als sie in anderen, vergleichbaren Staaten genommen hat, in denen zuerst staatliche Träger das Angebot der sozialen Dienstleistungen dominierten. Und wir Sozialdemokraten sind seit langem mit dieser Entwicklung versöhnt.

Der Ausbau und Wandel von 1970 bis 2000
Ein vielleicht noch größer einzuschätzender Impuls für die Weiterentwicklung der sozialen Arbeit - man kann möglicherweise auch sagen: die Abkehr von der alten Sozialarbeit, geschah in der ersten Kanzlerschaft von Willy Brandt. 1971 wurde die Psychiatrie-Enquete eingesetzt. Sie legte 1973 ihren Zwischenbericht und 1975 ihren Endbericht zur „psychiatrischen psychotherapeutisch/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung“ vor, welche schwerwiegende Mängel bei der Versorgung nicht nur der psychisch kranken Menschen, sondern auch der Menschen mit Behinderungen offenbarten. Darin wurde festgestellt, „daß eine sehr große Anzahl psychisch Kranker und Behinderter in den stationären Einrichtungen unter elenden, zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen leben müssen.“ Die Empfehlungen konnten nur Schritt für Schritt umgesetzt werden. Aber alle, die damals schon Verantwortung trugen, werden sich sicher daran erinnern, wie bedeutend dieser Impuls gewesen ist.

Der Ausbau brachte jedoch auch eine stärkere finanzielle Belastung für die verschiedenen Sozialleistungsträger mit sich. Es ging nicht mehr nur um Zuschüsse zur Arbeit der Träger der sozialen Arbeit, sondern um die Erfüllung von Rechtsansprüchen der Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Das hatte zur Konsequenz, dass nicht nur kirchliche oder andere gemeinnützige Anbieter - die Diakonie, die Caritas, die Arbeiterwohlfahrt, das Rote Kreuz, die im Paritätischen Wohlfahrtsverband organisierten Vereinigungen und die Wohlfahrtsstellen der Juden, sondern auch privatgewerbliche Leistungsanbieter ein Recht auf angemessene Entgelte erhielten. Spätestens seit dem Inkrafttreten der Pflegeversicherung Mitte der 90er Jahre sind die privatgewerblichen Anbieter im sozialen Markt nicht mehr zu übersehen. Der Verbände-Korporatismus, wenn er denn je richtig bestanden hat, ging zu Ende.

Einflüsse des europäischen Einigungsprozesses
Ergänzt wurde diese Entwicklung durch den europäischen Einigungsprozesses. Das Inkrafttreten der vier Grundfreiheiten aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft - also der Warenverkehrsfreiheit, der Personenverkehrsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit - erschütterte das bisherige Gefüge im Sozialstaat seit Anfang der 90er Jahre mindestens anhaltender als die Deutsche Einheit. Zwar ist der Kernbereich der Sozialpolitik, insbesondere die Daseinsvorsorge, von der Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union nicht erfasst, dennoch sind die Auswirkungen unübersehbar. Gerade das europäische Recht auf unverfälschten Wettbewerb beeinflusst heute in der Regel alle Entgeltvereinbarungen für soziale Dienstleistungen.

Zusammenfassend kann man vielleicht festhalten, dass die skizzierten Entwicklungen zwangsläufig zu einem sozialen Markt geführt haben. Und das hat die evangelische Kirche auch frühzeitig gemerkt. Ich darf daran erinnern, dass eins der ersten, wenn nicht das erste Standardwerk zum Sozialmanagement bereits Mitte der 70er Jahre in der Diakonischen Akademie in der Stuttgarter Stafflenbergstraße entstanden ist (Prof. Dr. Albrecht Müller-Schöll).

Die Anrechte von kranken, pflegebedürftigen oder behinderten Menschen auf bedarfsgerechte soziale Hilfe durch die Gemeinschaft können heute nur unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten erbracht werden. Vertragsfreiheit, Gewerbefreiheit, Konsumentenfreiheit, Berufsfreiheit und Privateigentum, freier Marktzugang für Konsumenten und Anbieter und schließlich auch ein Wettbewerb zuerst um die Qualität, aber nicht zuletzt auch um den Preis sind einfach nicht mehr wegzudenken. Sicher braucht ein solcher Markt auch Regeln. 
- Ich werde gleich ausführlich darauf zurückkommen. - Aber was wäre die Alternative? Durch die Kirchen und andere Organisationen erbrachte Charity, die ab und zu durch staatliche Zuschüsse unterstützt wird, sonst aber vorwiegend auf Spenden angewiesen ist? Oder soll der Staat selbst - etwa durch die Sozial- und Gesundheitsämter - die sozialen Hilfen allein ausführen?

Ich denke, es gibt heute keine Alternative mehr zum sozialen Markt - insbesondere wenn ich dies aus dem Blickwinkel des Hilfeberechtigten, marktwirtschaftlich: des Konsumenten betrachte. In beiden Alternativsystemen hätte ich keine Wahlfreiheit. Ich könnte nicht aussuchen, bei welchem Anbieter ich die Hilfen in Anspruch nehme oder von wem ich mich behandeln lasse. Eine ganz andere Frage ist, ob die Rechtsansprüche auf Hilfe ausreichend sind und ob die finanziellen Ressourcen es den Anbietern ermöglichen, eine bedarfsgerechte Hilfe zu leisten. Auch darauf komme ich noch zurück.

Bewertungen aus Sicht der SPD
Jetzt ist es sicher auch die Absicht dieses Gespräches, dass Sie von mir Bewertungen aus Sicht der SPD in Baden-Württemberg zum aktuellen Geschehen auf dem sozialen Markt hören wollen. Ich will da einige Punkte herausnehmen:

Ein sozialer Markt braucht Vorgaben
Dem Gesetzgeber ist auferlegt, die Regeln für den sozialen Markt festzulegen. Die meisten Sozialleistungsgesetze - vor allem die Sozialversicherungen - werden ja auf der Ebene des Bundes geregelt. Deshalb will ich mein Beispiel aus einem Sektor nehmen, in dem wir eine deutliche Verantwortung aufgrund eines hohen Finanzierungsanteils des Landes haben: Im Bereich der vorschulischen Kinderbetreuung geschehen gerade immense Veränderungen: Zum einen wollen wir den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab Beginn des zweiten Lebensjahres spätestens im Jahr 2013 überall einlösen und zum anderen wollen wir, dass mehr Bildungsaspekte in die Kindertagesstätten Einzug halten. Beides übrigens sozialdemokratische Impulse, die wir in den Zeiten der rot-grünen bzw. dann der schwarz-roten Koalition im Bund auf den Weg gebracht haben und deren Umsetzung wir als Opposition im Landtag von der Landesregierung einfordern.

Zwei Ziele verfolgen wir damit: Erstens wollen wir Familien entlasten und vor allem Frauen das Versprechen geben, dass sie ihre berufliche Karriere nicht mit der Geburt des ersten Kindes an den Nagel hängen müssen, und zweitens wollen wir den Kreislauf durchbrechen, dass sich ein niedriger Bildungsstand der Eltern weiter in so hohem Umfang auf die Kinder überträgt wie hier in Deutschland. Da stehen wir im europäischen Vergleich nämlich fast an der letzten Stelle. Wir setzen uns jetzt dafür ein, dass im Land und in den Kommunen ausreichend finanzielle Mittel für diesen Ausbau zur Verfügung stehen, dass dieser Ausbau nicht zu Lasten der Qualität vorgenommen wird und dass die Eltern nicht zu stark durch Beiträge belastet werden. In den jüngsten Haushaltsberatungen haben wir Konzepte dafür vorgelegt, die auch den Einstieg in die Beitragsfreiheit für die Eltern vorsehen.Natürlich müssen wir uns auch über die Ausgestaltung weiterer Regeln auf dem sozialen Markt politisch streiten.

Ich bleibe bei meinem Beispiel. Wir Sozialdemokraten haben uns mit guten Gründen auf der Bundesebene dafür eingesetzt, die privat-gewerblichen Anbieter von Kindertagesbetreuung in der Finanzierung nicht mit den gemeinnützigen Diensten gleichzustellen. Zudem: Wir Sozialdemokraten haben die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur steuerlichen Entlastung von Familien aus dem Jahr 1998 so umgesetzt, dass auch das Kindergeld immens erhöht wurde, wir haben das Elterngeld und den Kinderzuschlag eingeführt, aber - im Gegensatz zur CDU - wollen wir nicht, dass Familien dafür einen höheren finanziellen Anreiz (Betreuungsgeld) erhalten, wenn ihre Kinder nicht an der vorschulischen Bildung und Betreuung teilnehmen.

Ein sozialer Markt braucht eine genügende finanzielle Ausstattung
„Die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.“ Diesen Satz aus der Schweizer Verfassung können wir Sozialdemokraten ohne Einschränkungen unterschreiben. Wenn es den Schwachen aber wohl ergehen soll, dann brauchen wir genügend staatliche Mittel, um das Wohl sicher zu stellen. Wir wissen z.B., dass wir für die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen einfach deshalb mehr Geld brauchen, weil nach den Schrecken des Nationalsozialismus erst in der kommenden Zeit eine volle Altengeneration von Menschen mit Behinderungen bestehen wird und weil Menschen mit Behinderungen auch aufgrund des medizinischen Fortschritts inzwischen eine ähnlich hohe Lebenserwartung besitzen wie der Durchschnitt der Bevölkerung. Grundsätzlich ist es dabei egal, ob wie bisher hauptsächlich die Kommunen die Kosten übernehmen müssen oder der Bund stärker in die Verantwortung einbezogen wird, wie es viele fordern. Wir brauchen einfach mehr Geld.

Natürlich gibt es auch den Weg über Prioritätensetzung und Einsparung an anderen Orten zu mehr Geld für die Behindertenhilfe zu kommen. Aber ein Weg klappt bestimmt nicht - nämlich der über Steuersenkungen, wie sie jetzt durch schwarz-gelb durchgeführt bzw. geplant werden. Es ist egal, ob ich dies ethisch mit der christlichen Barmherzigkeit oder der Solidarität in der Arbeiterbewegung begründe, ich komme immer zum selben Ergebnis: Die Starken in unserer Gesellschaft sind verpflichtet, Verantwortung für die Schwachen zu übernehmen. Und dabei geht es natürlich gar nicht an, dass ich von Arbeitern und Angestellten und den kleinen Handwerkern monatlich ganz normal die Steuern einziehe und den Kapitalanlegern das Zeichen gebe, dass wir auf die Steuereinnahmen aus den Kapitalgewinnen gern verzichten, wenn das Geld nur in der Schweiz angelegt wird.

Eins möchte ich an dieser Stelle in meiner Funktion als Finanzpolitiker noch betonen: Der Staat ist zu einer sparsamen Haushaltsführung verpflichtet - egal ob es um den Straßenbau, die innere Sicherheit oder die sozialen Hilfen geht. Das heißt zum einen, dass er grundsätzlich nicht mehr ausgeben darf, als er einnimmt, und zum anderen, dass er prüft, wie er die Leistung, die er von Dritten haben will, zu einem möglichst günstigen Preis erhält.

Wir wollen und unterstützen den Wettbewerb; aber auch dieser benötigt Leitlinien
Deshalb wollen und unterstützen wir auch einen Wettbewerb. Der Wettbewerb auf dem sozialen Markt benötigt aber sicher noch mehr Leitlinien als der Markt in anderen Bereichen. Und wie überall gilt gerade auch für den sozialen Markt, dass es nicht nur um einen Wettbewerb um den Preis, sondern auch um die Qualität der Leistung gehen muss.

Wenn ich staatlicher Nachfrager z.B. nach einem Träger für eine neue Kindertagesstätte bin, muss ich diesen Wettbewerb auch irgendwie in Gang setzen. D.h. nicht, dass ich alle sozialen Hilfen nach der VOL für alle Marktteilnehmer ausschreiben muss. Ich denke, dass dies gerade in der Kinder- und Jugendhilfe nicht das richtige Mittel wäre. Aber ich kann auch nicht einfach sagen: „Letztes Mal war die AWO dran und diesmal macht Ihr’s von der Diakonie.“

Und selbst in den Fällen, in denen ich mehr oder minder gezwungen bin, öffentlich auszuschreiben, kann ich natürlich mit der Form der Ausschreibung und mit der Festlegung meiner Bewertungskriterien lenken. Genauso wie wir an anderer Stelle aus gutem Grund mittelstandsfreundliche Ausschreibungen etwa für Baumaßnahmen fordern, wollen wir natürlich auch, dass kleine Träger der Sozialarbeit überhaupt die Möglichkeit haben, an einem Ausschreibungsverfahren teilzunehmen. Deshalb halte ich etwa das Agieren der Bundesagentur für Arbeit bei der Ausschreibung von Weiterbildungsangeboten für einen schweren Fehler.

Zudem fordern wir in der Ausschreibung von Baumaßnahmen in aller Regel Erfahrungen der bewerbenden Unternehmen in diesem Tätigkeitsfeld. Das muss doch für die Ausschreibung bei sozialen Hilfen auch selbstverständlich sein. Und schließlich hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales damals noch unter der Leitung von Olaf Scholz explizit in der Auslegung des Vergaberechts darauf hingewiesen, dass „auch ökologische und soziale ‚gesellschaftliche Auswirkungen‘ (berücksichtigt werden können), die bei rein betriebswirtschaftlicher Sichtweise unberücksichtigt blieben“. Diesen Weg müssen wir sicher noch ausbauen.

Eine - schlechte - Möglichkeit von Leistungsanbietern im Rennen um ein preislich niedriges Angebot ist es ja mit niedrigen - mit unangemessen niedrigen - Löhnen zu arbeiten. Die erreichen die Arbeitgeber, indem sie Druck auf den Tarif machen oder Tochterfirmen mit Tarifen zu Leiharbeitskonditionen bilden. - Ich weiß: Die diakonischen Arbeitgeber waren hier nicht die ersten, die diesen Schritt gegangen sind. Aber sie waren auch nicht die letzten. Und gerade für die größten diakonischen Unternehmen in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg ist es heute ganz selbstverständlich, einen Großteil ihrer Beschäftigten in solchen Tochterfirmen außerhalb der kirchlichen „Dienstgemeinschaft“ zu beschäftigen. Ich muss Ihnen schon sagen: Das bedrückt mich sehr.

Wir wollen wieder einen fairen Wettbewerb nicht nur, aber auch auf dem sozialen Markt herstellen. Als wir Sozialdemokraten die Regeln für die Leiharbeit gelockert haben, konnten wir uns nicht vorstellen, dass die Arbeitgeber - z.B. auch eine große Drogeriekette mit Stammsitz in Baden-Württemberg - dies in so schamloser Weise zu Lasten ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausnutzen. Diesen Fehler haben wir inzwischen erkannt und wir setzen nun alles daran, ihn zu beheben.

Aber es sind auch noch weitere Schritte nötig. Ich bedauere zum Beispiel sehr, dass es keinen für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag „Soziale Arbeit“ mindestens für die Gehaltsstruktur gibt. So ist es heute immer noch möglich, dass insbesondere private Anbieter von sozialen Dienstleistungen - aber bei weitem nicht nur diese - günstige Angebote allein auf der Grundlage von niedrigen Löhnen abgeben können. Um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Ausbeutung zu schützen brauchen wir heute einen gesetzlichen Mindestlohn. Ich begrüße ausdrücklich, dass dies inzwischen auch Diakonie-Präsident Kottnik so betrachtet.

Ich zitiere: „Die Diakonie tritt dafür ein, dass – entsprechend dem biblischen Bild des Menschen - in jeder Gesellschaft ein Mensch von seiner Hände Arbeit leben können sollte. Ein allgemeiner Mindestlohn ist eine Möglichkeit, um dies zu verwirklichen.“ Ich weiß, dass dies in der „protestantischen Vielfalt“ nicht von jedem in der evangelischen Kirche und ihrer Diakonie unterstützt wird; aber glauben Sie mir bitte: Ihr Präsident hat recht.

Ein gesetzlicher Mindestlohn löst aber das Problem des unfairen Wettbewerbs auf dem sozialen Markt nicht. Ohne einen für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag brauchen wir deshalb zum Beispiel in der Pflege einen brachenspezifischen Mindestlohn. Ich begrüße, dass sich insbesondere die Arbeiterwohlfahrt sehr für das Zustandekommen der Verhandlungen und für ein positives Ergebnis eingesetzt hat; und ich wundere mich, dass die Diakonie sowohl beim Zustandekommen der Verhandlungen als auch in den Verhandlungen selbst eher gebremst haben soll. So wurde es mir jedenfalls berichtet. Denn ich glaube, ohne einen solchen Mindestlohn haben Sie spätestens nach der vollständigen Marktöffnung auch für die Pflegekräfte aus den östlichen Staaten der Europäischen Union ein riesiges Problem insbesondere in der ambulanten Pflege.

Neue Impulse sind wichtig
Ein sozialer Markt benötigt Erneuerung von innen. Mit der regulären Entgeltfinanzierung ist dies häufig nicht möglich. Deshalb brauchen wir zum einen staatliche finanzielle Unterstützung für Innovationen in der Sozialarbeit. Dafür setzen wir uns auch im Landtag ein. Unser Antrag zum „Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2010“ hat bspw. einen Anstoß dafür, dass die Koalition im Land zusätzliche Mittel für innovative Ansätze in der Armutsbekämpfung freigegeben hat.

Die Innovation kann aber zum anderen auch ganz von innen kommen. Ich nehme das Beispiel Suchtkrankenhilfe. Ich möchte mich an dieser Stell ausdrücklich gerade bei den kirchlichen Suchthilfeträgern dafür bedanken, dass Sie die Konzeption „Hilfe statt Strafe“ einschließlich der sogenannten Fixerräume gegen schwerste Widerstände vorangetrieben haben. Wir Sozialdemokraten standen und stehen dabei auf Ihrer Seite. Im Bund ist es uns in der ersten rot-grünen Koalition gelungen, diese Konzeption auch gesetzgeberisch umzusetzen und im Land unterstützen wir aktuell ganz klar die Ansätze der Heroin-Substitution. Uns ist es dabei völlig unverständlich, wie die CDU ihre eigene Sozialministerin so lange im Regen stehen lassen konnte.

Auch politische Signale der Kirche sind wichtig. Mir ist zum Beispiel die Diskussion über das gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (1997) noch in sehr guter Erinnerung. Ganz aktuell weisen die Kirchen in der „Woche für das Leben“ unter dem Motto „Gesunde Verhältnisse“ auf Frage nach einer gerechten Verteilung der Ressourcen im Gesundheitssektor hin und behandeln dabei viele Aspekte, die am heutigen Tag auch unser Thema hier in Bietigheim sind. Ich freue mich, dass Sozialdemokraten und Kirchen sich bei der Einschätzung vieler Fragen in der Gesundheitspolitik – zum Beispiel bei einer solidarischen Beitragsgestaltung, die auch Einkünfte aus Vermögen einbezieht – einig sind.

„Fairness auf dem Arbeitsmarkt“
Eine aktuelle Kampagne der SPD, über die wir an anderer Stelle auch mit Ihnen ins Gespräch kommen wollen, heißt „Fairness auf dem Arbeitsmarkt“. Die Begrenzung von Leiharbeit, mehr Mitbestimmung, ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro und ein sozialer Arbeitsmarkt sollen für mehr Gerechtigkeit sorgen, die Würde der Menschen sichern und das Ziel von Vollbeschäftigung verfolgen. Natürlich arbeiten wir dabei auch eigene Probleme aus der jüngsten Vergangenheit auf. Gerade beim Thema Arbeit ist uns die Position der evangelischen Kirche und ihrer Diakonie immer besonders wichtig. Der soziale Arbeitsmarkt, wie ihn meine Fraktion im Landtag versteht, ist ja praktisch eine Erfindung von Ihnen. Keine 1-Euro-Jobs, sondern dafür sozialversicherungspflichtige Beschäftigung für langzeitarbeitslose Menschen, die der Gesellschaft hilft.

Da ich ja Fehlentwicklungen in meiner eigenen Partei schon bekannt habe, erlauben Sie mir bitte, an dieser Stelle auch ein paar Fragen an Kirche und Diakonie als Arbeitgeber auf dem sozialen Mart zu stellen.

Mit hohem Respekt vor dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht und mit Verständnis vor finanziellen Zwängen frage ich mich doch, ob es manche Träger der Diakonie weiter durchhalten können, vor allem das Personal der Hauswirtschaft von der im Dritten Weg angelegten Dienstgemeinschaft auszuschließen und über selbst und nur für diesen Zweck gebildete Leiharbeitsfirmen mit niedrigeren Tariflöhnen den Einrichtungen wieder zur Verfügung zu stellen. Und dich frage mich weiter, ob es für den Erhalt des Dritten Weges förderlich ist, wenn die oberen Vertreter der Dienstgeber in der Diakonie auf der Bundesebene eine weise und klare Entscheidung des Kirchengerichtes der EKD zur Begrenzung der Leiharbeit in kirchlichen Einrichtungen so heftig wie geschehen kritisieren; vor allem, wenn diese meinen, sich in der Praxis nicht an die Entscheidung des Kirchengerichtes halten zu müssen.

Beim Thema Mitbestimmung frage ich mich, ob nicht die Ablösung vom BAT, wie sie in vielen Tarifkommissionen der Kirchen und der Diakonie vorgenommen wurde, den Dritten Weg, also das Einigungsverfahren innerhalb der Dienstgemeinschaft von kirchlichen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zur Setzung von Arbeitsrecht, überfordert. Einem Außenstehenden wie mir müssen Sie auch noch einmal erklären, warum es anscheinend ganz selbstverständlich ist, dass der Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland in der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) organisiert ist und dort an verantwortlicher Stelle mitarbeitet, aber gerade aktuell über zwei erstinstanzliche Entscheidungen von Arbeitsgerichten jubelt, die die Einflussmöglichkeiten der Gewerkschaften in der Diakonie beschränken. Ich persönlich und sicher auch meine Partei würden uns jedenfalls einen deutlich entspannteren Umgang zwischen der Kirche, der Diakonie und den Gewerkschaften wünschen.

Auch ein sozialer Markt verträgt und braucht gesellschaftliches Engagement
Zum Schluss möchte ich betonen, dass ein sozialer Markt aus meiner Sicht nicht ohne gesellschaftliches Engagement funktionieren kann. Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich den tausenden von Ehrenamtlichen, die sich zum Beispiel als Grüne Damen, als Helfer der Bahnhofsmission, als Sanitäter der Johanniter, als Betreuerinnen in den Pflegeheimen oder als Helferinnen im Freiwilligen Sozialen Jahr für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger engagieren. Nebenbei: Für mich ist diese Arbeit auch ein ganz klarer Wettbewerbsvorteil, den die Diakonie im sozialen Markt vorzuweisen hat und der auch bei der Vergabe Berücksichtigung finden muss.

Ich danke aber auch den Ehrenamtlichen in den Aufsichtgremien und Vorständen der sozialen Dienste. Ich glaube, dass weder der Staat noch privat-gewerbliche Anbieter die Einbindung in das örtliche Sozialwesen in dieser Weise organisieren könnten wie Sie.

Mein Dank geht auch an die hauptberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich mit hohem Einsatz und hoher Professionalität in ihrer tagtäglichen Arbeit bewähren.

Und nicht zuletzt danke ich auch den Kirchensteuerzahlern und Spendern sowie den kirchlichen Gremien dafür, dass sie nach wie vor bereit sind, so viele Gelder in die soziale Arbeit der Kirche zu geben, und damit auch manche Lücke schließen, die Politiker nicht so gern zu schließen bereit sind. Ich nenne da explizit die Hilfen für Obdachlose, Flüchtlinge, Prostituierte oder Drogenabhängige.