Rede von Nils Schmid auf dem Landesparteitag in Ulm 2010

Landesparteitag am 16.10.2010 in Ulm, Rede des Landesvorsitzenden Dr. Nils Schmid

Liebe Genossinnen und Genossen,

Baden-Württemberg ist in Bewegung. Die Gesellschaft in unserem Land verändert sich und wer durchs Land zieht, der spürt das. Die demokratische Politik nach bisherigem Stickmuster leidet an wachsendem Souveränitätsverlust und kann sich immer weniger durchsetzen. Politische Institutionen verlieren an Vertrauen und werden schwächer. Und politische Entscheidungen unterliegen einer verschärften Legitimationskrise. Das sehen wir zum Beispiel an den immer wieder aufbrechenden Elternprotesten in den Dörfern und Städten, das sehen wir an den regelmäßigen Demonstrationen gegen die Atompolitik und das sehen wir wie unter einem Brennglas an der Bewegung gegen Stuttgart 21.

Wir Sozialdemokraten schauen diesen Bewegungen weder atemlos noch schulterzuckend zu. Wir wollen Antworten geben auf diese Vertrauenskrise. Wir haben ein positives Bild von Baden-Württemberg und der Bürgergesellschaft in unserem Land. Wir wollen die enormen Antriebskräfte aufnehmen, die in dieser Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Und wir wollen dieses neue Bedürfnis und die Entschlossenheit der Bürgerinnen und Bürger aufnehmen und sie mitnehmen. Denn sie leisten ihren Beitrag zum guten Miteinander in dieser Gesellschaft und das können wir tagtäglich vor Ort erleben: Bei dem Mittelständler, der eine Stiftung für benachteiligte Kinder ins Leben gerufen hat, weil er sich um die Qualität der Lehrlingsausbildung sorgen macht. Bei der Oma, die sich als Lesepatin engagiert, weil sie weiß, wie wichtig es ist, dass junge Menschen schon früh mit Schrift und Literatur Begegnung haben. Und der Handwerker, der sich in der lokalen Initiative dafür einsetzt, dass die Gemeinde, dass die Stadt wieder eigene Stadtwerke gründet und damit die Energiewende vorantreibt. Und die junge Akademikerin, die als Gastarbeiterkind es geschafft hat bis zur Universität durchzukommen, und sich jetzt für die jungen Mädchen und Jungs in ihrem Stadtviertel engagiert, damit auch sie die Schule erfolgreich bestreiten. Und der Ingenieur, der, obwohl er einen Zwölf-Stunden-Tag hat, sich trotzdem im Sportverein Woche für Woche als Übungsleiter engagiert.

Aber es gibt auch Seiten in Baden-Württemberg, die nicht nur die pure Glückseligkeit darbieten. Denn es gibt Menschen in Baden-Württemberg, und es sind nicht wenige, denen geht es schlechter als noch vor fünf Jahren. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Familien haben Reallohneinbußen hinnehmen müssen und steigende Lebenshaltungskosten knapsen ihr Familienbudget an. Und sie haben über Kurzarbeit, aber auch über die Ausbreitung von Leih- und Zeitarbeit immer mehr Probleme gehabt, wirklich ihre Familie durchzubringen. Und es gibt natürlich immer noch die Jugendlichen, die in Warteschleifen stecken, weil sie keinen Ausbildungsplatz gefunden haben und damit ohne Perspektive bleiben. Und es gibt auch die junge Alleinerziehende, die trotz eiserner Disziplin es zeitlich und finanziell nicht wirklich auf die Reihe bringt, wie man das Leben unter solchen Bedingungen würdevoll lebt. Und übrigens: Soeben haben die Wohlfahrtsverbände im Land festgestellt, dass die Kinderarmut in den letzten Jahren um zweiundzwanzig Prozent gestiegen ist. Und deshalb sage ich, nur wenn es uns gelingt, offen und unverstellt auf all diese Menschen in ihren Lebenssituationen in Baden-Württemberg zuzugehen und diese Bandbreite der gesellschaftlichen Entwicklungen unter einen gemeinsamen Nenner zu stellen, nur dann werden wir unsere Gesellschaft zusammenhalten und nur dann wird dieses immer größer werdende Misstrauen gegenüber Politikern und der Politik im Allgemeinen überwunden werden. Und damit die Demokratie befestigt werden.

Baden-Württemberg am Scheideweg

Liebe Genossinnen und Genossen, es liegt in der Luft: Baden-Württemberg ist an einem Scheideweg angelangt. Mit der Regierung Mappus wird dieses Land von einem Ministerpräsidenten angeführt, der stehengeblieben ist in einer Zeit, die dieses Land schon längst hinter sich hat. Und ausgerechnet in dieser Phase, in der sich demokratische Entscheidungen einer Bewährungsprobe, einer Legitimationskrise ausgesetzt sehen, regiert Herr Mappus mit einer durchgehenden Politik der Bürgerferne – in Stil wie in Inhalt. Dies haben wir gesehen im Umgang mit der Steuer-CD, mit Steuerkriminellen, das sehen wir in der Atompolitik und natürlich merken wir es bei Stuttgart 21. Das ist genau das Gegenteil dessen, was unsere Gesellschaft jetzt braucht. Das ist ein Weltbild, das nicht zusammenführt, sondern wo soziale Gruppen, wo kulturelle Gruppen gegeneinander gestellt werden statt das Gesamte zu betonen. Und genau damit müssen wir aufhören, liebe Genossinnen und Genossen!

Wir haben es alle gemerkt: Der Herr Mappus wollte unbedingt an die Macht. Das war klar ersichtlich, nachdem Herr Oettinger nach Brüssel verabschiedet worden ist. Das haben wir gesehen, jetzt hat er die Macht. Wir wissen bloß bis heute noch nicht so recht, wofür er sie denn einsetzen will. Denn politische Macht heißt politische Gestaltung der Gesellschaft und Herr Mappus ist bislang jegliche Antwort schuldig geblieben, wie er dieses Land regieren will. Er hat bis heute noch keinen Begriff davon, noch kein Bild davon, wie Baden-Württemberg in der Zukunft aussehen soll. Er hat es bis heute nicht geschafft, seiner Regierung Inhalt und Form zu geben. Er ist Ministerpräsident, das ist aber auch alles.

Und er hat kein Gespür dafür, was dieses Land im Innersten zusammenhält – und das ist eben dieses Engagement vieler Menschen in unterschiedlichen Formen. Und, wenn ich jetzt die aktuellen Demonstrationen in Stuttgart anschaue, dann hat man manchmal den Eindruck, dass Herrn Mappus das Engagement der Bürgerinnen und Bürger nur dann wertvoll ist, wenn man die richtige Meinung vertritt. Und ich sage: Das ist ein vordemokratisches Verständnis von Demonstration, von Gesellschaft, von Politik. Uns ist jedes Engagement willkommen, denn wir brauchen viele Menschen, die mithelfen in dieser Gesellschaft, die sich für das Gemeinwohl einsetzen und die auch politisch mitentscheiden wollen. Und deshalb sage ich: Schluss mit diesen vordemokratischen Zeiten. Arme auf für alle, die sich in dieser Gesellschaft, in dieser Demokratie beteiligen wollen, liebe Genossinnen und Genossen!
Deshalb passt diese Regierung nicht in die heutige Zeit. Sie ist weder konservativ noch liberal. Sie ist einfach nur zurückgeblieben und sie ist krampfhaft auf der Suche nach einem Volk, das es so gar nicht mehr gibt. Und diese uninspirierte Regierung ist inzwischen von der nackten Angst erfasst worden, die Macht hier zu verlieren, abgewählt zu werden. Und ich meine sie hat auch allen Grund dazu. Die Uhren ticken anders in diesem Land. Und gerade an dem Umgang mit der Streitfrage, dem Konflikt um Stuttgart 21 sieht man das sehr genau.

Stuttgart 21: Unser Weg der Versöhnung

Denn nach langem Zögern hat Herr Mappus dann gemeint Er hat sein Thema gefunden für die Landtagswahl. Und er sprach dann davon, dass ihm wurde der Fehdehandschuh hingeworfen wurde; er nimmt ihn auf – und damit hat er die Stimmung angeheizt. Und er hat einseitig auf Konfrontation gesetzt. Das ist dann gemündet in diesen massiven Polizeieinsatz Ende September. Und wie es dazu kommen konnte, liebe Genossinnen und Genossen, dies bedarf rascher und umfassender Aufklärung. Wir werden nicht ruhen, bis die Hintergründe aufgearbeitet und aufgeklärt sind. Dazu hat die Fraktion umgehend einen Frage- und Forderungskatalog in den Landtag eingebracht. Aber für mich ist auch eines klar: Ein Untersuchungsausschuss zur Aufklärung dieser Hintergründe bleibt auf der Tagesordnung, bis wir wissen, was da wirklich geschehen ist, Genossinnen und Genossen! Wir werden da nicht nachlassen und wenn es erforderlich ist, wird es diesen Untersuchungsausschuss geben! Wir lassen uns von der Landesregierung nicht an der Nase herumführen.


Aber eines ist schon heute klar: Die Landesregierung hat entgegen unserer Aufforderung einen Baustopp zur Durchführung einer Volksabstimmung abgelehnt. Hätte es einen Baustopp gegeben, hätte es keine Baumfällarbeiten im Schlossgarten geben müssen. Dann wäre es zu diesem Polizeieinsatz gar nicht gekommen. Und damit wissen wir schon heute: Die politische Verantwortung für den Einsatz trägt die Landesregierung. Und die politische Verantwortung für diesen Polizeieinsatz, der aus dem Ruder gelaufen ist, trägt nicht nur der Polizeipräsident – er trägt die faktische Verantwortung als Einsatzleiter. Aber die politische Verantwortung, die bleibt nicht auf den Schultern von Herrn Stumpf, das ist zu einfach. Sondern die politische Verantwortung trägt der Polizeiminister dieses Landes. Deshalb fordere ich erneut auf: Herr Rech, treten sie zurück, übernehmen sie die Verantwortung für diesen Polizeieinsatz! Und Herr Rech schuldet dies auch den Polizistinnen und Polizisten, die Leidtragende dieser verfehlten Politik sind! Auf ihrem Rücken wird eine politische Fehlentscheidung ausgetragen und auch damit muss in diesem Land endlich einmal Schluss sein!

Spätestens nach dem Polizeieinsatz, aber schon davor ist deutlich geworden: S21 entzweit unsere Bevölkerung in Befürworter und Gegner. Die Fronten sind verhärteter denn je zuvor. Und die schlimmen Bilder von diesem Polizeieinsatz haben natürlich den Ruf des Landes massiv beschädigt. Sie haben aber auch die Glaubwürdigkeit in der Sache, die Glaubwürdigkeit des Projektes massiv beschädigt. Und deshalb ist es verständlich, dass die Reaktionen in der Öffentlichkeit den zuvor als Rambo gescholtenen Ministerpräsidenten dazu gebracht haben, auf Moderation zu setzen und eine Schlichtung anzuberaumen. Ich begrüße das. Ich wünsche Herrn Geißler eine glückliche Hand bei dieser Schlichtung. Doch man muss auch wissen, was Gegenstand dieser Schlichtung sein kann und was nicht. Denn der Grundsatzkonflikt, liebe Genossinnen und Genossen, ist über Schlichtung nicht auflösbar. Der Grundsatzkonflikt lautet: Entweder es wird zu Ende gebaut, oder dieses Projekt wird gestoppt. Und nicht das Handauflegen eines Schlichters und auch nicht Leutchen, die am runden Tisch sich versammeln, können über diese Frage entscheiden. Diese Frage kann nur das Volk entscheiden.

Volksabstimmung schafft Akzeptanz

Wir leben in einem demokratischen Rechtsstaat. Und wenn es darum geht, was ja die Gegner anstreben, gegen meinen Willen und einen Ausstieg zu beschließen, dann kann dieses nicht eine illustre Runde auf Grund von Demonstrationen tun. Sondern dann kann das nur der Souverän tun. Entweder das Parlament oder eben das Volk direkt. Dies heißt demokratischer Rechtsstaat.


Und wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben im Sommer erkannt, welche Sprengkraft in diesem Konflikt liegt und haben deshalb einen Vorschlag gemacht, um eine landesweit verbindliche Volksabstimmung auf den Weg zu bringen. Denn nur eine zusätzliche Legitimation verschafft die Akzeptanz, die notwendig ist, um diese Großbaustelle im Herzen der Landeshauptstadt zu Ende zu führen. Und wir wissen ganz genau: Wenn wir uns politisch einig sind im Landtag von Baden-Württemberg, dann werden wir bis zum Jahresende eine solche Volksabstimmung in die Wege leiten können. Und deshalb fordere ich Herrn Mappus erneut auf: Stellen Sie sich der politischen Verantwortung, verstecken Sie sich nicht hinter juristischen Gutachten, sondern entscheiden Sie, ob Sie politisch das Volk jetzt um eine zusätzliche Legitimation für dieses wichtige Infrastrukturvorhaben bitten wollen oder nicht. Das ist eine politische Frage, keine juristische Frage. Machen Sie den Weg frei für eine Volksabstimmung hier in Baden-Württemberg!

Die Konfliktlösung um Stuttgart 21, das Zusammenführen der Gesellschaft, das da notwendig ist, ist die Nagelprobe für politische Führung und Regierungsfähigkeit in Baden-Württemberg. Wer diesen Konflikt löst und die Spaltung überwindet, der führt die Gesellschaft zusammen. Wer dieses Großvorhaben mit Pfefferspray und Wasserwerfern durchknüppeln will, spaltet die Gesellschaft weiter, treibt sie weiter auseinander. Und deshalb sage ich ganz deutlich: Spätestens nach der Landtagswahl muss eine neue Landesregierung diesen Konflikt friedlich lösen und demokratisch lösen. Und wir müssen dann auch die wahltaktischen Motive, die auf der einen oder anderen Seite da im Spiel sein mögen, überwinden und uns der Verantwortung für das Gemeinwohl stellen, für den Zusammenhalt dieser Gesellschaft. Und aus diesem Grund sage ich: Spätestens nach der Landtagswahl sollen die Menschen in Baden-Württemberg das letzte Wort haben. Und als Ministerpräsident werde ich mich dafür einsetzen, dass wir einen neuen Grund für das demokratische Miteinander legen, indem wir diesen gesellschaftlichen Großkonflikt auflösen über eine Volksabstimmung. Und deshalb ist auch klar: Wenn wir regieren ab März 2011, werden wir den Menschen das letzte Wort in dieser Frage geben!

Und wer mit uns regieren will, der muss bereit sein diesen Weg zu gehen. Denn dies ist der Weg der Vernunft und der Versöhnung und wir werden ihn in der Verantwortung für das Land ab März 2011 durchsetzen!

In der Sache ist unsere Position klar. Wir werben mit guten Argumenten für S21 und die Neubaustrecke von Wendlingen nach Ulm. Dies ist unsere Beschlusslage. Ein Ergebnis von nüchternen Abwägungen, aber auch von intensiven und auch kontroversen Diskussionen in der Partei auf allen Ebenen. Und deshalb sage ich: Jawohl, die Beschlusslage gilt. Genauso klar ist aber auch, dass es in unserer Partei schon immer unterschiedliche Meinungen zu diesem Thema gab. Und wir haben sie immer respektiert. Das zeichnet uns als Volkspartei aus. Und deshalb sind wir auch aufgerufen, Brücken zu bauen in dieser Frage. Und wir sind uns alle einig - in der SPD und auch übrigens viele Bürgerinnen und Bürger -, dass wir das Votum der Bevölkerung in dieser Frage akzeptieren werden als letztes Wort. Und dass wir, egal in welcher Ausgestaltung auch immer, ein Votum der Bürgerschaft des Landes als verbindlich für die politische Leitlinie anerkennen werden. Wir stehen hinter diesem Bürgervotum, wir respektieren es, wie es ausgeht. Für uns ist klar: Wenn die Bürgerinnen und Bürger gesprochen haben, dann gilt das. Und das ist auch für Befürworter wie Gegner in diesem Saal, aber auch in der gesamten Gesellschaft, eindeutig. So können wir den Konflikt befrieden. Ein letztverbindlicher Entscheid der Bürgerinnen und Bürger, der für uns dann auch politische Gültigkeit hat.

Zur Vorbereitung dieser Volksabstimmung gehört zweifelsohne, dass alle Fakten auf dem Tisch liegen müssen, dass die Kosten transparent gemacht werden müssen, damit man auch weiß, über was man abstimmt. Und wir fordern diese Klarheit ein. Der Schlichter kann seinen Teil dazu beitragen, aber ich sage auch ganz deutlich: Die Deutsche Bahn als Bauherr ist in der Pflicht, Transparenz zu schaffen in dieser Frage. Das erwarten wir von einem staatseigenen Unternehmen, dass die Öffentlichkeit weiß, was die Grundlagen der Kostenberechnungen sind. Sonst bleibt es immer ein bisschen im Ungefähren.

Aber über die Volksabstimmung hinaus ist eines auch deutlich geworden in den letzten Wochen: Diese schwarz-grüne Polarisierung um Stuttgart 21 herum tut dem Land nicht gut. Maß und Mitte ist wieder gefragt. Die Bereitschaft zur Sachlichkeit, die Bereitschaft zum Austausch von Argumenten und ein Weg der Vernunft, der den unterschiedlichen Meinungen Respekt einräumt, der den Menschen Gehör verschafft mit ihren Einwänden und Sorgen. Der ihnen aber auch Entscheidungsmacht gibt. Nur dann werden wir uns auch wieder den wichtigen Zukunftsfragen des Landes zuwenden können. Denn es geht um mehr als nur um einen Bahnhof in Baden-Württemberg.

Mutiger Politikwechsel für Baden-Württemberg

Wir brauchen jetzt einen mutigen Politikwechsel. Wir brauchen eine Festigung, wir brauchen eine Vitalisierung unseres Gemeinwesens. Die Demokratie muss wieder erfahrbar, wieder lebendig werden für die Bürgerschaft des Landes und dazu braucht man Vertrauen. Vertrauen in die Entscheidungsverfahren, Vertrauen in die Entscheidungsträger in den Gremien, in den Parlamenten. Und das Misstrauen, das um sich gegriffen hat, das Gefühl, dass über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden wird, diesem Eindruck müssen wir aktiv entgegentreten. Und deshalb werden wir in zwei Richtungen die Demokratie unseres Landes beleben und befördern. Das eine ist die bewährte repräsentative Demokratie. Wir wollen sie stärken und die Menschen bei den Weichenstellungen in der Landespolitik stärker mit einbeziehen. Vor allem das, was vor Ort an Know-How da ist, an Erfahrungsschatz da ist, soll auch in die Landespolitik viel stärker einfließen können und nicht durch eine ferne Ministerialbürokratie gesteuert werden. Ich will das an zwei Beispielen illustrieren.

Wir wissen, dass die Entwicklung von Schulstandorten, dass längeres gemeinsames Lernen, gleiche Bildungschancen ganz entscheidend davon abhängen, wie vor Ort die Kommune, die Ausbildungsbetriebe, das Lehrer-Kollegium, die Elternschaft und die Schüler zusammenwirken. Und nicht umsonst ist jeder Gemeinderat, jeder Bürgermeister mächtig stolz auf die Schule im Dorf, in der Gemeinde. Da hat man viel Geld reingesteckt, in den Ausbau der Ganztagesbetreuung, in die Pausenhofgestaltung, in die Ausstattung von Fachräumen. Und jeder Gemeinderat, jeder Bürgermeister hütet das wie seinen Augapfel. Und deshalb ist es so wichtig, dass jetzt bei rückläufigen Schülerzahlen und beim Kampf gegen Ungleichheiten in der Bildung, dass wir Schulentwicklung vor Ort machen, dass wir den Menschen vor Ort vertrauen und nicht nur dem Schulamt und der Kultusbürokratie oder gar dem Kultusministerium. Sondern, dass wir das, was dort an Engagement schon da ist, diese Lust mitzumachen, die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen für das Gemeinwesen, für die gleichen Bildungschancen, dass wir dieses mitnehmen und aufgreifen.

Und deshalb sage ich: Wir werden kein Schulreformkonzept überstülpen mit einem Landtagsbeschluss wie Schwarz-Grün das in Hamburg gemacht hat. Nein, wir werden Wege eröffnen für längeres gemeinsames Lernen entlang den Bedürfnissen vor Ort. Wir wollen die Menschen überzeugen, dass das gut ist für die Kinder, wenn sie zum Beispiel als Haupt- und Realschüler in einer Schule gemeinsam zusammenbleiben. Und wir sind zuversichtlich, dass wir da auf viel Unterstützung stoßen werden. Weil wir sind die Partei, die den Menschen vertraut, liebe Genossinnen und Genossen – und nicht einer anonymen Kultusbürokratie!

Und ganz nebenbei sei gesagt: Nur dieser Weg ermöglicht es zu garantieren, dass in jeder Gemeinde über 5000 Einwohner die weiterführende Schule auch wirklich im Dorf bleibt. Das ist für unser Land, das seine Stärke aus der Fläche zieht, überlebenswichtig. Und ich meine, dass Bildungspolitik und Strukturpolitik hier Hand in Hand gehen müssen. Ähnliches gilt auch für G8 an den Gymnasien. Da sagen wir: Warum nehmen wir nicht die guten Konzepte, die in Mosbach und anderswo entwickelt worden sind, auf und geben denjenigen, die mit G9 besser zurechtkommen die Chance, einen G9 Zug einzurichten? Kostet nicht mehr, ist organisatorisch kein Problem - die einzigen, die blockieren, sitzen in Stuttgart. Und auch da gilt: Wir vertrauen den Menschen vor Ort mehr als denen im Stuttgarter Kultusministerium!

Und die repräsentative Demokratie stärken wir auch in der Energiepolitik. Jawohl, es gibt wegweisende Entscheidungen, die wir im Bundestag vorangetrieben haben, die leider jetzt in Frage gestellt worden sind. Aber inzwischen handeln viele vor Ort, engagieren sich für ihre Stadtwerke, investieren in Genossenschaftsanlagen zur Solarproduktion. Und auch da gilt wieder: Politik entscheidet sich daran, ob wir diesen Menschen vertrauen und wir ihr Engagement mit aufgreifen oder ihnen Knüppel zwischen die Beine werfen. Und ich sage ganz deutlich: Die Menschen wollen selbst entscheiden, wie Energie erzeugt wird bei ihnen vor Ort in der Region. Und die Solarzelle auf dem Dach, das Windrad in weiter Flur, die Wasserkraftanlage im Fluss und die Biogasanlage auf dem Bauernhof, liebe Genossinnen und Genossen - dies ist praktizierter Bürgerwillen in der Energiepolitik und den sollten wir schätzen und fördern und nicht weiter behindern!

Und deshalb sage ich zu: Ich werde dafür sorgen, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien im Land nicht weiter durch Planungsschikanen behindert wird. Wir brauchen diese erneuerbaren Energien und wir sollten da die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht weiter hemmen, sondern ihnen Spielräume eröffnen. Und wenn ich sage, dass vor Ort entschieden wird, wie die Politik in der repräsentativen Demokratie wirkt, wie man dann auch die Bürgerinnen und Bürger nicht nur formal beteiligt, sondern auch ihnen inhaltliche Entscheidungsspielräume einräumt, dann ist natürlich die Kommune, die Gemeinde, die Stadt ganz wesentlich. Und deshalb werden wir in Baden-Württemberg weiterhin für handlungsfähige Kommunen kämpfen. Und wir werden die kommunalen Finanzen mit Argusaugen bewachen. Wir werden den Angriff auf die Gewerbesteuer abwehren, stattdessen uns dafür einsetzen, dass die dynamische und stabile Gewerbesteuer ausgeweitet wird, dass sie zu einer kommunalen Wirtschaftssteuer ausgebaut wird, damit alle die in der Gemeinde, in der Stadt wirtschaftlich tätig sind, auch zum Ausbau der Infrastruktur, zum Erhalt der Infrastruktur in ihrem Ort beitragen. Das ist eine solidarische und solide Kommunalfinanzreform, die wir brauchen.

Mehr Demokratie machen

Aber die zweite Stoßrichtung, die wir für die modernste Demokratie im modernsten Land brauchen, ist mehr direkte Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger, mehr direkte Demokratie als Ergänzung zur repräsentativen Demokratie. Das heißt: Wir wollen Volksabstimmungen, Plebiszite erleichtern, denn in einer aktiven Bürgergesellschaft kann man den Bürgerinnen und Bürgern auch Sachentscheidungen anvertrauen. Dieser Wunsch ist heute ausgeprägter denn je. Das spüren wir auch an der Welle von Bürgerbegehren in den Kommunen. Baden-Württemberg hatte in den 50er Jahren da eine Vorreiterrolle inne, als es um kommunale Bürgerentscheidungen, Bürgerbegehren ging. Inzwischen sind wir da zurückgefallen, denn die klare Regelung von kommunalen Bürgerbegehren lässt immer noch auf sich warten, zum Beispiel wenn es um die Bauleitplanung geht. Man muss sich schon fragen, wie groß die Angst einer Landesregierung vor dem ersten Volksbegehren auf Landesebene sein muss, wenn man sich um ein paar Verbesserungen bei Quoren oder bei der Frist des Unterschriftensammelns herumdrückt. Ich glaube, wir sollten keine Angst vor den Bürgerinnen und Bürgern haben, sondern auch hier den Menschen mehr zutrauen.

Deshalb werden wir als Sozialdemokraten, werde ich der Ministerpräsident sein, der nicht nur mehr Demokratie wagen will, sondern, liebe Genossinnen und Genossen, wir werden mehr Demokratie machen in diesem Land!

All diese Formen von Beteiligung sollen sich darauf richten, das bürgerschaftliche Engagement, das bürgerschaftliche Bewusstsein in unserem Land zu stärken. Und es gibt zwei wichtige Träger bürgerschaftlichen Selbstbewusstseins. Das eine ist Arbeit in der Erwerbsgesellschaft, und das andere ist der soziale Aufstieg durch Bildung in unserer Gesellschaft. Und das werden die wahren Zukunftsfragen dieses Landes sein. Denn jeder weiß und jede weiß, dass in Arbeitszusammenhängen zu leben, einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können, nicht nur materiell eine Sicherheit gibt, sondern es schafft Selbstbewusstsein, es stiftet Sinn im Leben, es knüpft persönliche Beziehungen über das familiäre Umfeld hinaus, es gibt Selbstwertgefühl und eine individuelle Zufriedenheit. Und es ist die Basis dafür, dass sich unsere Bürgerinnen und Bürger dann auch selbstbewusst in Vereinen, bei der Feuerwehr, in Kirchen, vor Ort für das Gemeinwohl engagieren. Das ist die materielle Basis und auch die Basis des Selbstbewusstseins, die die Bürgerschaft braucht, um dann aktiv ins Geschehen einzugreifen. Denn resignierte, unsichere Menschen haben es schwer, sich dann aus der Gefangenschaft zu lösen, die darin besteht, nur ums Überleben kämpfen zu müssen. Und deshalb ist Arbeitsgesellschaft, ist Erwerbstätigkeit Voraussetzung dafür, dass wir eine aktive Bürgergesellschaft auch weiterhin in Baden-Württemberg haben.

Politik für Arbeit, Wachstum und Wohlstand

Und weil das so ist, sollte dieser Aufschwung - den ich begrüße, über den ich mich freue, der sich in zusätzlichen Aufträgen, in zusätzlichem Zuwachs an Beschäftigung niederschlägt -, sollte dieser Aufschwung auch wirklich bei den Beschäftigten ankommen. Da geht es um die Löhne. Denn wir wissen ganz genau: Nicht jeder, der morgens früh aufsteht und dann hart arbeitet, bekommt so viel Geld von seinem Arbeitgeber, dass er dann wirklich seine Familie unterhalten kann. Und deshalb ist die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn aktueller denn je - und auch eine SPD-geführte Landesregierung wird sich für einen gesetzlichen Mindestlohn einsetzen. Wir brauchen das für die Beschäftigten, wir brauchen das für das Handwerk, gegen unlauteren Wettbewerb.

Und wir werden die Spaltung der Belegschaften nicht mitmachen, in die, die schon immer dabei sind und Kernbelegschaften sind, und die, die über Leih- und Zeitarbeitsfirmen reinkommen. Dieses ist gerade in Aufschwungzeiten nicht mehr akzeptabel und wir haben auch als SPD dazugelernt, sag‘ ich ganz offen. Der Bundesparteitag hat ja auch das deutlich gemacht. Wir werden der Leih- und Zeitarbeit wieder straffere Zügel anlegen. Denn eins ist klar: wer Tag für Tag Seit an Seit am gleichen Band steht, der sollte auch den gleichen Lohn, den gleichen Urlaub und die gleichen Arbeitsbedingungen bekommen. Das ist Würde von Arbeit.

Und der Aufschwung soll auch bei den jungen Menschen im Land ankommen. Deshalb ist es gerade in dieser Zeit wichtig, dass die Arbeitgeber sich der Verantwortung für Ausbildungsplätze stellen, dass kein junger Mensch hier auf der Straße oder in Warteschleifen bleibt, sondern dass wir schon jetzt den Fachkräftemangel von morgen bekämpfen. Da sind weitsichtige Unternehmer gefragt. Da ist aber auch die Landesregierung gefragt, die dort, wo es hakt, über entsprechende Ausbildungsplätze, überbetriebliche Ausbildungsstätten ergänzend tätig werden muss. Wir wollen ab März 2011 eine Ausbildungsplatzgarantie für jeden Jugendlichen in Baden-Württemberg erreichen, damit der Start ins Berufsleben auch richtig klappt für unsere jungen Menschen hier.

Und das gleiche gilt für die Übernahme von Auszubildenden. Da erwarten wir, dass jetzt, wo es wieder anspringt in der Konjunktur, dass alle eine faire Chance bekommen, nicht nur ausgebildet zu werden, sondern dann auch in dem Betrieb bleiben zu können. Ihr seht, liebe Genossinnen und Genossen, ich werde ein Ministerpräsident sein, der die Würde von Arbeit wertschätzt!

Hin stehen für die heimische Industrie

Über den Aufschwung hinaus ist aber Wachstum und Beschäftigung in unserer Industrie, in unserer Wirtschaft in unserem Land wichtig. Und es war Gerhard Schröder, der sich für die Weiterentwicklung unserer industriellen Kerle, nein Kerne in Deutschland eingesetzt hat … er war auch ein Kerle, ja, oder ist einer. Er ist noch einer. Und wir brauchen Kerle, die für die Industrie hin stehen, dass die industriellen Kerne erhalten bleiben!

Und eine wichtige Weichenstellung war der Atomausstieg und das Erneuerbare-Energien-Gesetz, um das sich ja vor allem auch Hermann Scheer verdient gemacht hat. Denn da ging es nicht nur darum, Atommüll abzuwenden, sondern es ging darum, neue Beschäftigungschancen gerade für Maschinen- und Anlagenbau in Baden-Württemberg für unsere Handwerker zu eröffnen. Und ich sage, wir haben gerade in Baden-Württemberg die Chance, innovativ mit Stadtwerken, mit unseren Tüftlern und Ingenieuren, diese Energiewende voranzutreiben. Und wenn dann Herr Mappus kommt und einseitig Atomkonzerne bevorzugt, dann hat er sich zum willfährigen Werkzeug von vier Großkonzernen gemacht. Und er hat die Beschäftigungschancen für Mittelstand und Handwerk hier im Land verbaut. Und das werden wir ihm nicht durchgehen lassen!

Ich sag ganz deutlich, wir stehen hin für Produktion und Industrie in unserem Land. Wir stehen hin, wenn es darum geht, neue Kraftwerke zu bauen, die hocheffizient und ökologisch verträglich Energie produzieren. Wir stehen hin für die Biogasanlage, die mit Speiseresten Energie erzeugt. Wir stehen hin für das Logistikzentrum, das tarifgebundene Arbeitsplätze schafft. Wir stehen hin für den notwendigen Ausbau von Netzen und von Pumpspeicherkraftwerken, um erneuerbare Energie wirklich in die Fläche zubekommen. Wir stehen hin für eine Verkehrsinfrastruktur, die den Wirtschaftsstandort zur Schiene, zu Wasser und auch auf der Straße fördert. Wir stehen hin für Industrie und Produktion in Baden-Württemberg. Das ist unsere Substanz, das brauchen die Menschen hier und da werden wir nicht dran deuteln lassen.

Und ich will auch mal eines einflechten, liebe Genossinnen und Genossen: Wer dieses Land zu Wohlstand und Beschäftigung führen will, der kann sich nicht darauf beschränken, gegen Stuttgart 21 zu sein. Sondern da geht es darum, klar Kurs zu halten, für Produktion, für Dienstleistung und für unsere industriellen Kerne! Wir müssen wissen, woher wir kommen, wo unsere Stärken sind. Und wir sollten diese Stärken weiterentwickeln zu einer ökologisch verträglichen Energieerzeugung, zu einer Automobilwirtschaft, die immer weniger Schadstoffe ausstößt, und zu einer Zulieferindustrie, die weiterhin auf Innovation setzt. Das ist die Vision des Landes Baden-Württemberg. Wir werden Industriestandtort sein und bleiben, und dafür werden wir als Sozialdemokraten kämpfen!

Jetzt gilt es, Potenziale freizusetzen, in den Köpfen und natürlich auch in den Strukturen. Und da ist die engagierte und die hoch ausgebildete Arbeitnehmerschaft unseres Landes von zentraler Bedeutung. Und deshalb sollte man gerade nach dem, was in den letzten zwei Jahren auf die Arbeitnehmerschaft eingeprasselt ist, jetzt nicht mit dem Abbau von Arbeitnehmerrechten beginnen. Und deshalb haben wir uns im Sommer dagegen gewehrt, als die Landesregierung sich aufgemacht hat, die Personalvertretungsrechte mit der öffentlichen Dienstrechtsreform zu beschneiden. Und deshalb sage ich auch deutlich: Wir werden in der Landesregierung dafür sorgen, dass Mitbestimmung nicht als Hemmschuh, sondern als Trumpf erfahren wird - denn wir brauchen das Engagement, das Mitmachen der Beschäftigten in der Industrie, in der öffentlichen Verwaltung. Das ist eine moderne Gesellschaft – und nicht zu meinen, wir müssen sie knebeln und knechten. Wir brauchen sie alle!

Klare Verhältnisse für Solidarität und Gerechtigkeit

Und zu Wohlstand, Produktion und Beschäftigung gehört auch, dass wir den Sozialstaat nicht vernachlässigen und in Frage stellen. Und das solidarische Miteinander, die solidarische Finanzierung, die solidarische Abdeckung der großen Lebensrisiken, wird uns gerade im Hinblick auf die großen Debatten der nächsten Monate um die Gesundheitsreform ein großes Anliegen sein. Denn vor lauter Demonstrieren haben manche ja übersehen, dass Schwarz-Gelb eine massive Akzentverschiebung plant: Eine Strukturreform in der Gesundheitsversorgung weg von einer gesetzlichen Krankenversicherung hin zu einer Begünstigung der privaten; Zusatzbeiträge, die auf eine Kopfpauschale hinauslaufen, letztendlich eine Auflösung der Solidarität. Und da werden wir dagegen halten, liebe Genossinnen und Genossen. Mit unserer solidarischen Bürgerversicherung!

Und spätestens seit der Wahl in Nordrhein-Westfalen wissen wir auch, dass es da auf klare Verhältnisse im Bundesrat ankommt. Und ein Ministerpräsident, der das Sparpaket der Bundesregierung für sozial ausgewogen hält, dem fehlt jegliches Gespür für Solidarität und soziale Gerechtigkeit. Und ich sag Euch zu, ich werde ein Ministerpräsident sein, der um den Wert von Solidarität in der Gesellschaft weiß!

Sozialer Aufstieg durch Bildungschancen

Die zweite wesentliche Antriebskraft von selbstbewussten Bürgern, von einer aktiven Bürgergesellschaft, ist Bildung. Ist die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs durch Bildung. Wir wissen als Sozialdemokraten: Kein Kind, kein Talent darf verloren gehen, unabhängig von der Begabung, von der Herkunft, von der sozialen Situation, der Familie. Denn wir brauchen alle. Wir brauchen alle Ressourcen für die Wirtschaft, wir brauchen aber auch alle für das Miteinander in der Gesellschaft. Und unsere Arbeitswelt, unser Gemeinwesen braucht dringend gut ausgebildete und aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger. Und deshalb ist es eine Schande, dass das Bildungswesen, das Schulwesen in Baden-Württemberg zu jenen gehört in Deutschland, die am meisten sozial diskriminieren, wo am meisten Benachteiligung herrscht. Und das werden wir nach der Landtagswahl ändern!

Wir werden durchgängig Chancengleichheit herstellen. Angefangen in den Kinderbetreuungseinrichtungen, durch Stärkung der vorschulischen Bildung, über die Abschaffung von Kindergartengebühren, über den Ausbau von Ganztagesangeboten mit echten Lehrkräften und nicht nur Jugendbegleitern. Wir werden längeres gemeinsames Lernen einführen, damit das soziale Miteinander in der Schule gestärkt wird. Wir werden natürlich auch die Studiengebühren abschaffen, die ein weiteres Hemmnis sind zur Bildungschancengleichheit und deshalb sage ich, die erste Maßnahme wird sein: Abschaffung der Studiengebühren in Baden-Württemberg!

Und wir verbinden das mit einer sozialdemokratischen Vision, die so alt ist wie unsere Partei selbst. Nämlich, dass sozialer Aufstieg durch Bildung möglich sein muss in unserer Gesellschaft. Dass eine Gesellschaft, die diese Chancen bietet, eine lebenswerte, eine gerechte Gesellschaft ist. Und dass es ganz wichtig ist, überlebenswichtig für eine Gesellschaft, dass viele in dieser Gesellschaft die Erfahrung machen können, mit eigener Anstrengung und der notwendigen Förderung durch den Staat und die Kommunen über eine gute Bildung und Ausbildung ihren Platz im Erwerbsleben und letztendlich in der Gesellschaft zu finden. Und es ist ganz wichtig, dass auch die Eltern und die Großeltern in diesem Land die begründete Hoffnung pflegen, dass es ihren Kindern und Enkeln besser gehen kann als ihnen selbst. Wenn dieses Bewusstsein mal gebrochen ist, liebe Genossinnen und Genossen, dann ist eine Gesellschaft schnell in der Resignation. Dann ist schnell das Einzelinteresse wichtiger als das Gesamtinteresse. Dann ist die Hoffnung, dass es vorwärts geht, dass es Fortschritt gibt, schnell dahin. Und deshalb ist gerade für die sozialdemokratische Partei diese Triebfeder für die Gesellschaft, die in dem sozialen Aufstieg liegt, existenziell, und wir werden dieses sozialdemokratische Versprechen immer wieder erneut einlösen. Es muss möglich sein, dass ein jeder und eine jede die Chance hat, über eine gute Bildung, über eine gute Ausbildung, oben anzukommen, liebe Genossinnen und Genossen!

Und deshalb wenden wir uns gegen Privilegien und überkommene Strukturen in der Bildungspolitik. Und deshalb sage ich auch ganz deutlich: Für uns Sozialdemokraten kann es nicht darum gehen, dass die, die oben angekommen sind, die es schon geschafft haben, oben bleiben, sondern wir wollen, dass möglichst viele hochkommen, liebe Genossinnen und Genossen. Das ist unsere Vision einer gerechten Gesellschaft!

Baden-Württemberg ist Einwanderungsland

Und jeder, der mit offenen Augen, mit offenem Vorstand und offenem Herzen durch unser Land geht, weiß: Die neue soziale Frage, die sich uns stellt, ist die nach der Integration unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Die Wahrheit ist doch, Baden-Württemberg ist schon längst ein Einwanderungsland. Und vielleicht hat es Herr Mappus noch nicht begriffen, aber das Statistische Landesamt hat es in der Tat, lieber Ivo Gönner, eindeutig ausgewiesen. Und ich weiß, in meinem Wahlkreis, wo ich antreten werde zur Landtagswahl, in der größten Stadt - der ebenfalls ehemals freien Reichsstadt Reutlingen - ist schon jetzt mehr als die Hälfte der Kinder unter sechs Jahren ein Kind mit Migrationshintergrund. Das ist die gesellschaftliche Realität. Und deshalb ist es im wohlverstandenen Eigeninteresse von uns allen, dass Integration gelingt, dass all diese Kinder, dass all diese jungen Menschen vollwertiger Bestandteil unserer Gesellschaft werden, als Erwerbstätige, in den Vereinen und auch als politisch Mitwirkende in Parteien und in Parlamenten!

Und gerade weil ich mich da ein bisschen auskenne, will ich auch deutlich sagen. Ich verschließe nicht die Augen vor den Problemen, die auch in der Integrationspolitik da sind. Denn natürlich gibt es viele Menschen, unsere Mitglieder, unsere Wählerinnen und Wähler, die zunächst mal fremdeln, wenn in einem Stadtteil sich die Bevölkerung auch augenscheinlich deutlich verändert. Wenn vielleicht mehr als in der Vergangenheit Frauen mit Kopftüchern auf den Straßen zu sehen sind. Und ich war jetzt im Sommer während des Ramadan bei dem einen oder anderen Fastenbrechen, zum Beispiel auch in Konstanz, und es gab ein eindrückliches Erlebnis für mich: Da war eine Dame mittleren Alters dabei, die gesagt hat, es ist schön, dass wir jetzt gemeinsam die Moschee besuchen hier in Konstanz. Jeder kennt sie, sie liegt an einer Hauptdurchgangsstraße, ist auch deutlich erkennbar mit Minarett - also sehr sichtbar, dass eine Moschee in Konstanz seit einigen Jahren existiert. Und diese Konstanzerin hat dann gesagt, sie sei schon häufig davor gestanden. Da ist auch ein Kaffee dabei, ein Laden, das ist ja ein ganzes Gemeindezentrum. Und offene Türen, jeder kann rein und raus gehen. Und sie hat gesagt, sie hat sich irgendwie nicht so recht getraut, da mal alleine reinzugehen. Weil natürlich dann mitschwingt: Vorstellungen vom Islam, Vorstellungen von der Rolle der Frau, die in diesen Kulturen, vielleicht nicht mal unbedingt in der Religion, aber zumindest in den Kulturen angelegt ist. Und da gibt es natürlich Vorurteile. Die Frau hat ganz oft gesagt, sie ist dankbar und froh, dass sie in einer größeren Gruppe mit dem Landesvorsitzenden, mit der örtlichen Kandidatin Zahide Sarikas da rein gehen kann und sich da einfach mal ein Bild machen kann. Und ich glaube, liebe Genossinnen und Genossen, dieses Beispiel von Vorbehalten sollten wir nicht zu schnell beiseite schieben.

Denn es ist etwas, was ernsthaft viele Menschen bewegt. Das ist noch lang nicht Fremdenfeindlichkeit oder Islamfeindlichkeit, sondern das ist ein Gefühl: „Na, die Gesellschaft ändert sich, ich komm da nicht immer mit allem mit, ich kann auch mit einer anderen Kultur, mit einer anderen Religion nicht ganz so viel anfangen“. Es sind eben nicht alle so kosmopolitisch wie ich, der oftmals in Moscheen ist und so weiter. Und gerade auch in unserer Partei sollten wir Verständnis für diese Menschen haben, aber nicht in dem Sinne, dass wir sagen: „Die haben schon Recht und das ist alles ganz furchtbar“, sondern indem wir sagen: „Jawohl, das ist ein Prozess, der braucht Zeit, der braucht Überzeugungskraft, der braucht Vorbilder auf beiden Seiten, die sich für den Dialog, die sich für die Integration einsetzen, für gute Bildungschancen, aber auch für den interreligiösen Dialog, der damit verbunden sein will“.

Und deshalb sage ich: Jawohl, unsere Partei ist Integrationspartei, gerade weil sie beide Seiten versteht, gerade weil sie ein Gespür dafür hat, wie auch bei vielen Bürgerinnen und Bürgern der Mehrheitsgesellschaft solche Prozesse auf Vorbehalte stoßen und weil es eben dafür auch Zeit braucht. Und deshalb haben wir uns ja auch bemüht, unter Schröder diesen Prozess zu beschleunigen. Aber da gibt es noch viel zu tun. Und ich sage: Wenn wir ohne Angst und ohne Träumerei uns dieser Frage stellen, dann hat die Sozialdemokratie hier wieder die Chance, gesellschaftsprägend, zusammenhaltsfördernd, solidarisch in unserem Land im 21. Jahrhundert zu wirken. Und das werde ich als Ministerpräsident vorantreiben, liebe Genossinnen und Genossen!

Mehr als nur Bahnhof

Nun weiß ich besser als ihr: All‘ das, was ich da gesagt habe, kostet Geld. Unsere Vorschläge zur Verbesserung der Einnahmesituation des Landeshaushalts liegen auf dem Tisch. Beispielsweise wollen wir umschichten zugunsten von Bildung – und aus der Landwirtschaftsverwaltung und von den Subventionen für Großlandwirte was rübernehmen. Wir wollen eine Verwaltungsstrukturreform machen. Wir wollen ein paar unsinnige Projekte stoppen wie den Restbestand an NSI, den es noch gibt, oder auch die Förderung von Regionalflugplätzen. Ja, da werden wir sehr ehrlich und offen mit den Menschen in diesem Wahlkampf umgehen. Aber vor allem werden wir dafür kämpfen, dass dem Staat, das was ihm von Rechtswegen zusteht an Steuereinnahmen, dass er dieses auch erhält, liebe Genossinnen und Genossen. Und deshalb mehr Personal für die Steuerverwaltung, aber vor allem eine Landesregierung, die den Steuerkriminellen auch mal die rote Karte zeigt. Dies ist überfällig! Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt, liebe Genossinnen und Genossen!

Ihr seht, ich werde nicht mehr versprechen als ich halten kann. Das wird die Generallinie im Wahlkampf sein, für Finanzen und auch für die inhaltlichen Forderungen. Und es ist auch deutlich geworden, dass wir als SPD, dass ich als Spitzenkandidat verstanden habe, welche Dimension der Konflikt um den Bahnhof angenommen hat. Deshalb haben wir frühzeitig einen Vorschlag gemacht, der das Land wieder zusammenführen will. Aber vor allem haben wir heute deutlich gemacht: Wir verstehen mehr als nur Bahnhof, liebe Genossinnen und Genossen!

Denn der schwarz-grüne Glaubenskrieg um Stuttgart 21 überdeckt viele wichtige Herausforderungen, vor denen dieses Land steht. Und wer dieses Land führen will, muss mehr bieten als nur einen Protestzug anzuführen.

Sicherung von Wohlstand und Beschäftigung, solide Finanzen, faire Bedingungen am Arbeitsmarkt, gerechte Bildungschancen, Zusammenhalt der Gesellschaft, auch für die Zuwanderinnen und Zuwanderer, dafür wird die SPD im anstehenden Landtagswahlkampf eintreten und sie wird einen neuen Politikstil pflegen. Ich will Menschen überzeugen und nicht überwältigen. Wir werden Überzeugungen formulieren, die andere überzeugen sollen und sie ihnen nicht vorsetzen, einseitig vorkauen. Wir werden auf Dialog setzen und damit die Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen mit ihren Anliegen. Wir werden ihnen nicht nach dem Mund reden. Wir haben klare Vorstellungen, wie das Land regiert werden soll. Aber wir werden ihnen Substanz bieten. Wir werden ihnen auf Augenhöhe begegnen. Und wir werden nicht von vornherein alles besser wissen, sondern wir werden auch mal zuhören können.

Und ihr könnt Euch darauf verlassen: Ich werde den Mut zu Entscheidungen haben. Zu Entscheidungen, die andere nicht erschrecken, sondern die andere ermutigen: Ermuntern zum Mitmachen, zum Mitgestalten des Landes und der Gesellschaft. Und ich werde ein Ministerpräsident sein, der es ernst nimmt, was hier groß steht: Zusammen leben, füreinander da sein, gemeinsam entscheiden. Dafür steh ich, dafür steht die SPD. Dafür bitte ich um Eure Unterstützung. Herzlichen Dank!