Landesparteitag am 07.07.2007 in Bühl

Rede von Ute Vogt

I.

Liebe Genossinnen, liebe Genossen,

ein Blick auf die Schlagzeilen der letzten Tage lohnt sich: „Der Arbeitsmarkt ist im Aufwind“, „Hilfe für Langzeitarbeitslose“, „Besondere Förderung für Jugendliche, die nicht ausreichend qualifiziert sind“, „Ein ausgeglichener Haushalt ist in Sicht“. Liebe Genossinnen, liebe Genossen, wir stellen den Arbeitsminister, wir stellen den Finanzminister – es sind unsere Erfolge, die diese guten Schlagzeilen bringen! Dies gibt uns allen Grund, selbstbewusst zu sein!

Natürlich weiß ich, dass manch’ wöchentliche Umfrage nicht dazu beiträgt, unser Selbstbewusstsein zu kräftigen. Aber, liebe Genossinnen und Genossen, was wir von Umfragen zu halten haben, das wissen wir doch schon seit der Bundestagswahl! Oder ganz aktuell bei der OB-Wahl in Mannheim! Ein Kopf-an-Kopf-Rennen lautete die sichere Prognose – und dann über 50 Prozent für Peter Kurz und die SPD – und 30 Prozent für die CDU. Solche Umfragen spiegeln doch schon lange nicht mehr die politische Stimmung. Sie werden gekauft, um politische Stimmung zu erzeugen, liebe Genossinnen und Genossen!

II.

Aber es liegt auch an uns selbst, deutlich zu machen, dass es die SPD war, die unser Land voran gebracht hat – und dass wir es sind, die die entscheidenden Veränderungen bewirken. Oder glaubt jemand, dass die Merkels und Oettingers dieser Welt sich heute im Aufschwung sonnen könnten ohne die großen Leistungen von Gerhard Schröder und der rot-grünen Bundesregierung?

16 Jahre Kohl waren 16 Jahre Aussitzen, Schönreden und verpasste Chancen für die kommenden Generationen! Vier Jahre Merkel und Westerwelle hätten unser Land in ein kaltes, unsoziales und wettbewerbsfanatisches Land verwandelt und nicht zuletzt den Gewerkschaften Macht und Einfluss genommen! Und zwei Jahre Oettinger ... ja, er ist schon zwei Jahre Ministerpräsident, ohne dass das richtig bewusst wird. Wie auch, wenn jemand nach zwei Jahren Regierungstätigkeit noch Fehler macht, wie sie sich andere nicht mal in den ersten 100 Tagen erlauben dürften?!

Was hätten Sozialdemokraten bewirkt, wenn wir solche satten Mehrheiten im Kreuz hätten! Statt dessen müssen wir erleben, dass unser erstklassiges Bundesland drittklassig regiert wird. Nur die positive Konjunktur und die gute Entwicklung am Arbeitsmarkt verhindert doch, dass dieser Ministerpräsident vollends entlarvt wird!

Bei der Geschichtsfälschung um Filbingers Vergangenheit und dem Taktieren und Lavieren danach, beim tölpelhaften Umgang mit dem Studienzentrum Weikersheim, da haben sich auch nicht wenige anständige CDU-Mitglieder zutiefst geschämt für einen solchen Ministerpräsidenten. Allerdings wurde leider auch deutlich, dass es nicht wenige andere gibt; die Brunnhubers und Fleischers der CDU Baden-Württemberg. Nun will ich nicht von „brauner Soße“ reden, damit der arme Herr Mappus nicht wieder vor Gericht verlieren muss. Aber was sich hier im Land an Konservatismus am äußeren rechten Rand der CDU gezeigt hat, macht deutlich, dass diese Regierungspartei mitnichten mit einem weltoffenen, modernen und fortschrittlichen Baden-Württemberg Schritt halten kann!

Aber selbst in dieser konservativen Regierung mussten sozialdemokratische Ideen übernommen werden. Der Einstieg in die Ganztagsschulen war unumgänglich. Und auch hier verkündet die Regierung, dass sie jetzt Krippenplätze für unter Dreijährige schaffen muss. Der Rechtsanspruch auf Betreuung ab zwei Jahren – auch in Baden-Württemberg wird er Realität werden!

Das zeigt, liebe Genossinnen und Genossen: Wir bewirken etwas, auch wenn wir im Land nicht die Mehrheit haben, Gesetze zu verändern. Wir haben die Macht der Worte und der Diskussionen; da braucht man einen längeren Atem! Nehmen wir uns ein Beispiel an Erhard Eppler – Debatten, die er bereits vor Jahren angestoßen hat, tragen heute Früchte!

Übrigens ganz aktuell: Gestern hat das Bundesverfassungsgericht das Gesetz zur Offenlegung von Nebentätigkeiten der Abgeordneten für rechtmäßig erklärt. Ich halte das für einen wichtigen Beitrag zur Transparenz von Politik, und wir sind stolz darauf, dass diese Initiative von Peter Conradi aus Baden-Württemberg vor Jahrzehnten begonnen und aktuell von unserem Landesgruppenvorsitzenden Christian Lange in die Tat umgesetzt wurde!

III.

Solche Beispiele zeigen: Politik braucht Beharrlichkeit. Aber sie zeigen auch: Bewegung ist möglich. Wichtig ist dabei stets der Wille zur Erneuerung; das Wissen, dass wir nicht stehen bleiben dürfen und uns nicht zufrieden geben, solange es Ungerechtigkeit und Unfreiheit gibt. Wir streiten für eine Welt, in der es gerecht zugeht, in der Menschen solidarisch miteinander umgehen und in der sie in Freiheit und Frieden leben. Aber keiner von uns wird diesen Zustand vermutlich selbst erleben können. Und trotzdem arbeiten wir in und mit der SPD dafür, diesem großen Ziel jeden Tag ein Stück näher zu kommen.

Im Bremer Entwurf heißt es – wie übrigens bereits im Berliner Programm –: „Menschen tragen verschiedene Möglichkeiten in sich. Sie sind weder zum Guten noch zum Bösen festgelegt. Sie sind vernunftbegabt und lernfähig. Daher ist Demokratie möglich“. Ich will hinzufügen: Darum ist Politik nötig! Es geht darum, Meinungen zu bilden, Mitstreiter zu gewinnen. Aber auch voraus zu denken, aufzuklären, nach vorne zu gehen, Neues zu wagen! Das ist mein Verständnis von links sein!

Nicht rückwärtsgewandt den alten Zeiten nachtrauern – oder gar vorzugaukeln, dass wir uns abschotten könnten oder die Globalisierung zurückdrängen. Sich den Realitäten stellen, Veränderungen zur Kenntnis nehmen – aber sich nicht damit abfinden, sondern selbst gestalten! Dafür sind wir eine linke Volkspartei! Und dafür brauchen wir jetzt diese Programmdebatte, in der wir über den Tag hinaus denken!

IV.

Ich will einige wenige Handlungsfelder benennen. Wir brauchen eine neue Verständigung darüber, was unser Staat künftig leisten soll und leisten muss. Felder wie Sicherheit, öffentliche Daseinsvorsorge und Bildung sind für mich dabei unabdingbare Kernaufgaben, die nicht zur Ware werden dürfen.

Als Ronald Reagan in den 80er Jahren „starve the beast“ ausrief – also „hungert das Biest aus“ –, da hat er eine Entwicklung in Gang gesetzt, deren fatale Folgen in den USA besichtigt werden können: Private Streitkräfte im Irak, privatisierte Gefängnisse, desolate Wasserversorgung in Kalifornien, Stromdesaster an der Ostküste und dramatische Verluste bei der Überflutung von New Orleans wegen fehlendem Katastrophenschutz.

Offenbar lernen einige leider nichts daraus. Ein Blick ins CDU-Grundsatzprogramm sei hier gestattet. Vom handlungsfähigen Staat ist gerade mal an einer einzigen Stelle die Rede. Auf Seite 42 können wir lesen: „Ein handlungsfähiger Staat sichert die Wettbewerbsvoraussetzungen, die Gewerbe- und Vertragsfreiheit, den Schutz vor Marktbarrieren“, und so weiter. „Starve the beast“ kann ich da nur sagen! Ronald Reagan wäre stolz auf seine Jünger! Diejenigen, die stets dem schlanken Staat das Wort reden, zeigen, dass sie ihn in Wahrheit verhungern lassen wollen!

Die Überschrift des CDU-Programms „Freiheit und Sicherheit“ wird damit zur Farce! Denn ein Staat, der sich nur noch um den freien Wettbewerb auf allen Feldern kümmert, wird niemals Freiheit und Sicherheit für alle Bürgerinnen und Bürger gewährleisten können! Wir wollen nicht, dass sich nur noch die Reichen frei und sicher fühlen! Und wenn mir in dieser Woche ein CDU-naher Bürgermeister aus Schwaben empört erzählt, dass er mit Günther Oettinger streitet, weil dieser massiv für die Privatisierung der Wasserversorgung geworben hat, dann zeigt das: Wir Sozialdemokraten sind auf allen Ebenen gefordert, diesem Ansinnen Einhalt zu gebieten, nicht nur auf der Ebene der europäischen Union! Sondern überall, wo wir in Verantwortung stehen – und wir haben hier Verbündete bis tief in konservative Kreise unseres Landes hinein!

Es gilt gerade bei uns im Land, von den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Die Privatisierung der Netze der Telekom führt dazu, dass selbst in Mittel- und Oberzentren im ländlichen Raum noch nicht einmal die Grundversorgung mit DSL-Anschlüssen gewährleistet ist. Was in den Ballungsräumen für viele Privathaushalte selbstverständlich ist, wird selbst größeren Firmen vielerorts vorenthalten. Hier hemmt und vernichtet der viel gepriesene Wettbewerb Arbeitsplätze im ländlichen Raum!

Deshalb rührt unsere Sorge, was die derzeitigen Verhandlungen zur weiteren Privatisierung der Bahn AG betrifft. Natürlich wollen wir, dass Schnelltrassen weiter ausgebaut werden. Wir wollen zum Beispiel die Neubaustrecke Stuttgart-Ulm mit Stuttgart 21 ebenso wie eine menschenverträgliche Rheintalbahn und einen Knotenpunkt am Mannheimer Hauptbahnhof, durch den die Stadt nicht durch einen Bypass von der Fernverkehrsader abgehängt wird. Aber wir wollen nicht zulassen, dass weniger rentabler Nahverkehr auf der Strecke bleibt, nur weil er im Wettbewerb privater Konsortien nicht mehr rentabel ist. Deshalb muss die Schiene in Bundeshand bleiben und darf nicht dem Kräftespiel des Wettbewerbs überlassen werden!

V.

Ebenso wenig eignet sich die Bildungspolitik zur Auslese über den Geldbeutel. Ein reiches Land wie Baden-Württemberg ist es seinen Kindern mehr als alle anderen schuldig, dass jedes Kind eine Chance bekommt! Was ist das für ein Kinderland, in dem Jahr für Jahr 6000 Jugendliche ohne jeglichen Abschluss von der Schule gehen?! In dem wir Kinder im Alter von zehn Jahren aussortieren und den Kindern schon in der dritten und vierten Klasse oft die Freude am Lernen nehmen? Ein Kind, das sich anfangs auf die Schule freut, gerne hingeht und bei dem wir dann erleben, wie es von Klasse zu Klasse mehr Druck verspürt, weil der Stichtag droht?

Weil alle alles daran setzen, dass möglichst keiner mehr in die Hauptschule muss? Wenn immer weniger Handwerker und Mittelständler im Land Lehrstellen für Hauptschüler haben? Wenn ein Kind aus einer Akademikerfamilie auch 2007 eine viermal größere Chance auf einen höheren Bildungsabschluss hat, als ein Kind aus einer Arbeiterfamilie – dann kann doch kein vernünftiger Mensch sagen, dass wir die Hauptschule schlecht reden würden! Schlecht macht es die CDU im Land, die der Hauptschule immer mehr zumutet und nun zur Krönung die ausgebildeten Referendare auf die Straße setzt, um sie hinterher zu einem drittel Gehalt wieder als Assistenten an die Schule zurückzuholen ... das ist zynische Politik auf Kosten der Kinder und der jungen Arbeitskräfte!

Es ist Zeit die überkommene Bildungsstruktur zu überwinden. Die Perspektive muss sein, dass wir die soziale Auslese hinter uns lassen und das dreigliedrige Schulsystem überwinden. Gemeinsames Lernen und ein Regelangebot an Ganztagesschulen, das muss auch in unserem Grundsatzprogramm viel eindeutiger benannt werden!

VI.

Ein letztes Stichwort will ich aufgreifen. Wir brauchen einen vorsorgenden Sozialstaat – und für den Bedarfsfall einen nachsorgenden Sozialstaat, in dem wir auch daran arbeiten, dass möglichst wenig „Nachsorge“ betrieben werden muss. Wir brauchen einen Sozialstaat, der Teilhabe möglich macht und nicht abwartet, bis Menschen keine andere Chance mehr haben, als von Sozialleistungen abhängig zu sein. Wir bekennen uns auch zum Ziel der Vollbeschäftigung, weil wir niemandem sagen dürfen: Du wirst nicht gebraucht.

Natürlich gibt es andere Modelle. Die Idee des Bürgergelds zum Beispiel ist in vielen Variationen in der Diskussion. Und es lohnt, sich damit auseinander zu setzen. Welch schöne Idee: Alle bekommen das gleiche Einkommen, das zum Leben reichen soll. Allerdings: Nimmt man das staatliche Sozialbudget von geschätzt 720 Milliarden Euro, so errechnet sich daraus ein Grundeinkommen von 750 Euro pro Person und Monat, allerdings ohne Krankenversicherung. Doch ich will jetzt gar nicht über die Finanzierbarkeit reden, denn eine Idee sollte nicht gleich mit Finanzargumenten erschlagen werden.

Aber ich finde: Das sozialdemokratische Verständnis von Sozialstaat sieht anders aus. Der Sozialstaat, wie ich ihn verstehe, zahlt keine Alimente unabhängig von der Bedürftigkeit. Der vorsorgende Sozialstaat investiert in Können, in die Kompetenz der Menschen und in die Chancengerechtigkeit, damit jeder seine Leistung einbringen kann. Nur wenn jeder seine Leistung einbringt, kann der Wohlstand einer Gesellschaft gehalten werden oder wachsen. Wenn jeder gefordert ist, seine Leistung einzubringen, dann fördert das den Zusammenhalt.

Sicher sind alle gleich behandelt, wenn jeder das gleiche Grundeinkommen hat. Aber werden wir damit wirklich den Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht? Was ist mit den Kindern, die nie gelernt haben, wie man sich einbringt oder verwirklicht? Wenn Eltern und Großeltern schon von Sozialhilfe leben? Denen sind wir es schuldig, sie rauszuholen aus der Sozialhilfekarriere und ihnen Chancen zu geben! Und wo bleibt die Solidarität, wenn sich einige entscheiden, einfach nichts einzubringen? Eine Gesellschaft ist doch nicht sozial, wenn sie einen Teil ihres Potentials einfach stilllegt! Eine Gesellschaft, die an die Zukunft glaubt, setzt alles daran, das menschenmögliche Maß an Wissen und Arbeitskraft zu mobilisieren, damit alle vorankommen!

VII.

Die Arbeitswelt verändert sich, aber die Erwerbsgesellschaft ist noch lange nicht am Ende. Neue Felder entstehen; in der Energieversorgung, in der ökologischen Industriegesellschaft, aber auch beim Dienst am Menschen, zum Beispiel in sozialen Berufen. Eine Gesellschaft, die an die Zukunft glaubt, lässt sich nicht nur treiben, sondern setzt auf die Gestaltung dieser Zukunft.

Daran mitzuwirken ist die große Aufgabe des politischen Handelns, im Kleinen wie im Großen, vom Ortschaftsrat bis zum Europäischen Parlament. Auch deshalb dürfen wir nicht jede staatliche Aufgabe an Private delegieren. Denn dann ist jede Demokratie überflüssig: Wenn die Demokraten nichts mehr zu entscheiden haben, weil der Markt alles regelt.

„Die SPD kann mit Stolz auf ihre Geschichte als größte und beständigste demokratische Kraft in unserem Volke verweisen“, so hat es Johannes Rau einmal formuliert. Lasst uns heute in dieser Tradition streiten und abstimmen, damit wir einen weiteren Baustein für die Zukunft der Sozialen Demokratie und den Fortschritt in unserer Gesellschaft hinzufügen. Vielen Dank!