Europa solidarisch und sozial gerecht gestalten

Europapolitische Leitlinien der SPD Baden-Württemberg

Den folgenden Text haben die Delegierten der Landesvertreterversammlung der SPD Baden-Württemberg, die am 20. September 2008 in Ehingen stattgefunden hat, mit großer Mehrheit verabschiedet.

Es handelt sich um den Leitantrag des Landesvorstandes der anlässlich der Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009 abgehalten Landesvertreterversammlung. Damit hat die SPD Baden-Württemberg ihre Ziele und Politiken für die Zukunft Europas definiert.

I. Präambel - Den Wert Europas steigern

Europa ist ein sozialdemokratisches Projekt, geboren aus der Idee, die Länder und Völker Europas in Frieden und Wohlstand zu vereinen. Von Beginn an wollten die Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen ein tolerantes Europa, das sich den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verpflichtet fühlt.

Europa ist für Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen weit mehr als ein Bündnis von Wirtschaftspartnern. Es muss ein solidarisches Bündnis der Bürger und Bürgerinnen sein. Deshalb ist der Aufbau des sozialen Europas das entscheidende Zukunftsprojekt, das den Menschen und nicht nur den Märkten dient.

Die europäische Einigung war die Antwort auf Weltkrieg, Völkermord, Vertreibung und die Spaltung unseres Kontinents. Sie ist heute die demokratische und soziale Antwort auf die Globalisierung.

Europa muss einen größeren Wert schaffen, der den Bürgerinnen und Bürgern zu Gute kommt. Europa muss neue Handlungsspielräume schaffen, wo nationale Politik an ihre Grenzen stößt. Hier muss Europa einspringen und den Marktkräften einen sozialen und ökologischen Rahmen bieten. Wir wollen die soziale Marktwirtschaft in Europa. Und wir wollen einen Markt, für die Verbraucherinnen und Verbraucher und ihre Interessen und Bedürfnisse verwirklichen.

Europa ist aus wirtschaftspolitischer Sicht für Deutschland unentbehrlich. Für Deutschland stellen der Euro, der Binnenmarkt und die Erweiterung der Europäischen Union kaum zu überschätzende Vorteile dar.

Die Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen in Baden-Württemberg wollen Europa weiterentwickeln und dabei helfen, die soziale Dimension der Europäischen Integration zu stärken. Dabei bleibt eine gemeinsame Verfassung für Europa mit einer klaren Ausrichtung auf die Interessen und Bedürfnisse der Bürger und Bürgerinnen das Ziel. Wir wollen, dass alle Mitgliedstaaten selbst bestimmt den Reformvertrag von Lissabon unterstützen, damit die darin enthaltenen wichtigen Fortschritte für die Gestaltung einer demokratischeren, handlungsfähigeren und bürgernahen Europäischen Union ihre Wirkung entfalten können. Ohne den Lissabonner Vertrag ist kein sozialer Fortschritt in Europa möglich. Ohne die Reformvorhaben des Lissabonner Vertrag ist die Europäische Union auch nicht erweiterungsfähig, da die Entscheidungsstrukturen auf der Basis des Vertrages von Nizza bereits jetzt in der Union der 27 Mitgliedstaaten an ihre Grenzen stoßen.

Der Vertrag von Lissabon weist in die richtige Richtung, daher muss seine Ratifizierung fortgesetzt und die Informationspolitik in den Mitgliedstaaten über die Inhalte und Fortschritte des Vertrages im Vergleich zur gegenwärtigen Vertragsgrundlage von Nizza forciert werden.

Bei der Europawahl am 7. Juni 2009 werden die politischen Weichen für die Umsetzung des sozialen Europas gestellt. Sie ist eine Richtungswahl für mehr Demokratie und Bürgernähe und gegen ungezügelten Marktliberalismus. Ein handlungsfähiges und zugleich sozial ausgerichtetes Europa ist nur mit einer sozialdemokratischen Mehrheit im Europäischen Parlament durchsetzbar. Eine starke sozialdemokratische Fraktion ist Garant dafür, dass die fortschreitende Öffnung des Binnenmarktes nicht zu einem ruinösen Abwärtstrend bei den sozialen sowie umwelt- und verbraucherrelevanten Standards verkommen kann.

Jede Stimme für die SPD ist eine Stimme für einen größeren sozialen Mehrwert, den das einige Europa für die Bürger und Bürgerinnen schafft.

II. Kräfte bündeln für ein soziales Europa

Die soziale Dimension stärken

Nach den Erfolgen der wirtschaftlichen Integration, wie der Verwirklichung des Binnenmarktes für Waren, Geld und Dienstleistungen sowie der Einführung der gemeinsamen Währung, gilt es, das soziale Europa als großes Zukunftsprojekt der kommenden Jahre voranzubringen. Mit dem wirtschaftlichen Fortschritt wollen wir auch den sozialen Fortschritt organisieren, damit die Wohlstandsgewinne nicht nur einigen wenigen, sondern vielen Menschen zugute kommen. Das Ziel ist die Verankerung der Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft in ganz Europa.

Es ist an der Zeit, Europa eine starke soziale Dimension zu geben, die den Bürgerinnen und Bürgern auch unter den Herausforderungen der Globalisierung Schutz und Sicherheit bietet. Die Wesensmerkmale des europäischen Sozialmodells müssen als Ausdruck gemeinsamer sozialpolitischer Werte, Orientierungen und Ziele zu einem europäischen Markenzeichen werden, das globale Handlungsfähigkeit ausdrückt und in Europa nach innen wie ein Schutzraum mit gesicherten Standards wirkt.

Bei der Entwicklung des europäischen Sozialmodells kann aber nicht eine Vereinheitlichung der nationalen Sozialsysteme das Ziel sein. Die Unterschiede der historisch gewachsenen sozialen Sicherungssysteme sind dafür derzeit viel zu groß. Wir wollen einen verbindlichen sozialen Rahmen für Europa.

Für Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen hat das europäische Sozialmodell entscheidende Wesensmerkmale:

solidarisch finanzierte Sozialsysteme für die Absicherung im Alter und gegen die großen individuellen Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit;
für alle Menschen zugängliche Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge von guter Qualität, zu angemessenen Preisen und in ausreichender Menge;
eine lebendige Wirtschaftsordnung mit Tarifautonomie, sozialem Dialog und Mitbestimmung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, sowie
Koalitionsfreiheit für handlungsfähige Gewerkschaften.

Gute Arbeit ist das Ziel

Mit konkreten Maßnahmen wollen die Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen in Europa die soziale Dimension der Europäischen Integration stärken, denn offene europäische Märkte brauchen klare Spielregeln, damit gute soziale Standards eingehalten werden.

Das sozialdemokratische Maßnahmenbündel umfasst vor allem folgende Projekte:

Guter Lohn für gute Arbeit. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten fordern allgemeinverbindliche, angemessene und Existenz sichernde Mindestlöhne in ganz Europa. Überall in Europa müssen Menschen, die Vollzeit arbeiten, auch von ihrem Lohn leben können. Zugleich müssen Unternehmen, die faire Löhne zahlen, vor Konkurrenz durch Dumpinglöhne geschützt werden.

Gute soziale Standards bei der Leih- und Zeitarbeit. Die europäische Leiharbeitsrichtlinie muss weiterentwickelt werden, damit Sozialdumping bei Leih- und Zeitarbeit verhindert wird. Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen fordern die Gleichbehandlung von Leih- und Zeitarbeitern mit fest Beschäftigten vom ersten Tag an. Die Spaltung in Stamm- und Randbelegschaften muss überwunden werden. Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ muss für alle gelten.

Was ursprünglich zum Auffangen von Produktionsspitzen und saisonalen Schwankungen gedacht war, hat sich inzwischen zu einem weit verbreiteten Instrument der Lohndrückerei entwickelt.

Für Chancengleichheit in der beruflichen Bildung in Europa: Wir Sozialdemokraten setzen uns für die Chancengleichheit in der beruflichen Bildung in Europa ein. Hier hat sich das duale Ausbildungssystem bewährt. Dieses System und die daraus resultierenden Berufsabschlüsse bedürfen einer positiven Bewertung auch in Europa. Die berufspraktische Ausbildung im Betrieb muss angemessen berücksichtigt werden.

Mit dem europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) besteht die große Chance, gemeinsame europäische Standards für die überbetriebliche Ausbildung zu entwickeln. Die Transparenz und Übertragbarkeit von Kompetenzen und Qualifikation innerhalb der Europäischen Union ist ein zentraler Baustein auf dem Weg zu einem sozialen und bürgernahen Europa.

Die Ausgestaltung des Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) und des Europäischen Leistungspunktesystems in der beruflichen Bildung (ECVET) müssen zu mehr Transparenz führen. Die Beschreibung der Lernleistung muss einfach und nachvollziehbar gestaltet sein. Eine Erprobungsphase mit Kontrolle und Einflussmöglichkeiten unter Beteiligung der Sozialpartner ist vorzusehen.

Berufliche Bildung muss es ganzheitlich geben, nicht nur in Modulen.

Die Gefahr einer Beliebigkeit von Lerninhalten und – methoden und ein zu enger Betriebs- und Branchenbezug müssen vermieden werden.

Das Prinzip der gesellschaftlichen Verantwortung in der beruflichen Bildung muss sichtbar bleiben, das heißt eine Finanzierungsverpflichtung von Arbeitgebern und der Öffentlichen Hand muss gewährleistet sein.

Der Hochschulzugang muss für Absolventen der beruflichen Bildung europaweit ermöglicht werden.

Steuerpolitik europäisch gestalten. Notwendig ist insbesondere eine einheitliche Steuerbemessungsgrundlage und Festsetzung eines Mindeststeuersatzes für die Unternehmensbesteuerung. Über die Unternehmens¬steuer¬sätze und unterschiedlichen Steuerbemessungsgrundlagen stehen die Mitgliedstaaten in direktem Wettbewerb miteinander. Sozialdemokraten setzen ökonomische Vernunft und Kooperation gegen einen Wettlauf um die niedrigsten Steuern. Dem Steuerwettbewerb muss ein rechtlicher Rahmen entgegen gesetzt werden, der Steuerdumping und Steuerflucht verhindert. Durch die bessere Koordinierung der Steuerpolitiken lässt sich Spielraum für eine effektive Finanzpolitik schaffen.

Dienstleistungsrichtlinie weist den Weg. Mit der Dienstleistungs¬richtlinie ist es gelungen, die Öffnung der Dienstleistungsmärkte sozial verträglich und effizient zu organisieren und die Belange der Bürger und Bürgerinnen mit denen der Unternehmen in Einklang zu bringen. Einseitige Barrieren für die Dienstleistungsanbieter aus den europäischen Mitgliedstaaten werden abgeschafft, ihr Zugang und Markteintritt erheblich erleichtert. Die sozialen, ökologischen und verbraucherrechtlichen Standards in den Zielländern der Dienstleistungen bleiben davon unberührt und bindend. Die Öffnung mit sozialem Augenmaß, die für andere Bereiche der wirtschaftlichen Integration Vorbild sein kann, hat sich durchgesetzt.

Europäische Arbeitnehmerrechte stärken. Die Novellierung des europäischen Betriebsverfassungsgesetzes ist unumgänglich. Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in international aufgestellten Unternehmen müssen aufgrund der zunehmenden grenzüberschreitenden Umstrukturierungen gegenüber dem Betriebsrat und Betriebsverlagerungen früher und umfassender als bisher in alle wichtigen Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Die Arbeitgeber sollen regelmäßig Beschäftigtenzahlen und geplante Investitionen sowie Umstrukturierungen offen legen müssen. Zudem müssen die zur Gründung eines Europäischen Betriebsrates notwendigen Belegschaftsstärken gesenkt werden.

Gleichstellung fördern. Deutschland zählt in Sachen Gleichstellung noch zu den Entwicklungsländern in der Europäischen Union. Gerade mit Blick auf die Aufstiegschancen, das Gehaltsgefüge und die Segregation nach Berufsbranchen herrscht gerade in Deutsch¬land unverändert großer Handlungsbedarf. Lohnunter¬schiede bei Frauen und Männern von mehr als 20 Prozent sind keine Seltenheit.

Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen wollen die europäischen Gleichstellungsziele insbesondere mit Blick auf die Einkommensunterschiede und die ungleichen Karrierechancen ambitionierter formulieren und ihre Umsetzung vorantreiben. Erforderlich ist zudem eine europäische Gleichstellungsrichtlinie, die im öffentlichen wie auch im privaten Bereich eine gerechte Verteilung guter Arbeit, verbesserter Bezahlung und unabhängig von sozialen Unterschieden gleiche Chancen durchsetzt.

Antidiskriminierung als europäische Norm. Wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen wollen ein diskriminierungsfreies Europa der Chancengleichheit schaffen. Die Einhaltung des in den europäischen Verträgen und in der europäischen Grundrechte¬charta verbürgten Verbots von Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters, oder sexuellen Ausrichtung muss regelmäßig überprüft und bei Bedarf aktualisiert werden. Die Gleichstellung der Menschen stellt einen wichtigen Bestandteil des europäischen Wertekanons dar, den die Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen in Europa verteidigen.

Mehr Verbraucherschutz in Europa. Die Interessen der Verbraucher und Verbraucherinnen müssen im Binnenmarkt auch grenz¬überschreitend gewahrt sein. Nur mit einem wirkungsvollen Verbraucherschutz und starken Verbraucherrechten in Europa kann der Binnenmarkt seine Vorteile für die Bürger und Bürgerinnen vollständig entfalten.

Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen mehr Transparenz für die Verbraucherinnen und Verbraucher – sowohl bei Entscheidungs- und Zulassungsverfahren auf politischer Ebene und bei den zuständigen Behörden als auch bei den Unternehmen und ihren Produktangeboten. Nur informierte Verbraucherinnen und Verbraucher können dem Angebot, den Anbietern und den Standards vertrauen, den Markt mit gestalten, sich selbstbewusst als aktiv am Binnenmarkt Beteiligte wahrnehmen und ein positives Verhältnis zu Europa entwickeln.

Ob es um Lebensmittel, Gentechnik, um Spielzeug, technische Geräte, Dienstleistungen o.ä. geht: Es bedarf dem Vorsorgeprinzip verpflichteter, hoher einheitlicher Schutz und Sicherheitsstandards in Europa. Allerdings sollte die Einheitlichkeit nicht zu Lasten der Standards gehen (Stichwort: Vollharmonisierung). Darüber hinaus sollten die einzelnen Mitgliedsstaaten die Möglichkeit haben, höhere Standards zu erhalten oder einzuführen. Es bedarf einer wirkungsvollen Kontrolle der Einhaltung dieser Standards.

Die Verbraucherrechte sollen auch durch die Zulassung von Sammelklagen gestärkt werden, damit sich die Bürger und Bürgerinnen besser als bisher gegen unlautere Geschäfte schützen können.

III. Europa und die Kommunen ziehen am selben Strang

Die Kommunen sind die Ebene, auf der gesetzgeberisches Handeln am unmittelbarsten erfahrbar ist. Selbstverwaltete Städte und Gemeinden bilden das Fundament der Demokratie in Baden-Württemberg, Deutschland und Europa. Ihre Leistungskraft resultiert aus ihrer Organisationskompetenz für die Gestaltung der Lebenswirklichkeit der Bürger und Bürgerinnen und aus ihrer Flexibilität, mit der sie die Herausforderungen vor Ort bewältigen können. Die kommunalen Gestaltungsspielräume zu erhalten und auszubauen, ist das gemeinsame Ziel, das Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen in den Städten und Gemeinden und im Europäischen Parlament verfolgen. Dabei handeln Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen in den Kommunen und in Europa Hand in Hand. Für die Stärkung der Kommunen und ihrer Selbstverwaltung ist ein europäischer Ordnungsrahmen erforderlich, der vor allem folgende Bedingungen erfüllen muss: Daseinsvorsorge ist öffentliche Verantwortung! Die Verantwortung, demokratische Kontrolle und die Steuerungskompetenz bei der Erbringung der sensiblen Leistungen der Daseinsvorsorge müssen in öffentlicher Hand verbleiben – auch wenn Private beteiligt sind. Die Städte und Gemeinden tragen die Verantwortung dafür, wie die Leistungen am besten erbracht werden können. Das Europäische Beihilfe- und Vergaberecht muss dem Rechnung tragen und nicht durch das Erschweren interkommunaler Kooperationen wie Zweckverbänden einen faktischen Druck zur Privatisierung erzeugen. Mehr Rechtssicherheit für die Daseinsvorsorge. Die Kommunen benötigen als Erbringer der Leistungen der Daseinsvorsorge mehr Rechtssicherheit für die Bewältigung ihrer Aufgaben. Mehr Rechtssicherheit bedeutet, es ist ein klarer gesetzlicher Rahmen einer Richtlinie notwendig, aus dem hervorgeht, welche gemeinwohlorientierten Leistungen den Bestimmungen des Binnenmarktes, des Vergaberechts und der Beihilferegelungen unterliegen und welche nicht. Die Finanzierung und das Management öffentlicher Dienstleistungen, zum Beispiel im Krankenhauswesen, bei der Trinkwasserversorgung oder bei der Abfallbeseitigung, dürfen nicht länger von Einzelfallurteilen und juristischen Interpretationen abhängig sein. Hände weg vom Wasser! Die Privatisierung der Trinkwasserversorgung lehnen wir ab. Das Trinkwasser eignet sich als elementares Lebensmittel nicht für einen rein an kurzfristigen Kosten-Nutzen-Kalkülen orientierten Wettbewerb. Die Privatisierung der Wasserversorgung ist auch angesichts der schlechten Erfahrungen in anderen europäischen Mitgliedstaaten, zum Beispiel Großbritannien, abzulehnen. Einige Mitgliedstaaten haben schon reagiert. So besteht in den Niederlanden seit 2004 ein gesetzliches Verbot der Überantwortung der Wasserversorgung an Private. Wir fordern die EU-Kommission auf, ihre auf Liberalisierung der Wasserversorgung ausgerichtete Politik grundlegend zu verändern. Sie soll sich ganz im Gegenteil im Zuge der Verhandlungen über die GATS dafür einsetzen, die Wasserversorgung aus diesem Abkommen über den freien Handel mit Dienstleistungen auszunehmen. Das Land muss beim Schutz des Trinkwassers europäisch mitdenken und zum Beispiel Regelungen erlassen, damit private Anbieter künftig nicht mehr an Zweckverbänden beteiligt werden können. Zudem müssen die Gemeindeparlamente, die bei Entscheidungen über die Zukunft der kommunalen Trinkwasserversorgung eine große Verantwortung tragen, vorab umfassend über mögliche Auswirkungen einer Umstrukturierung der Wasserversorgung informiert werden. Qualität hat Vorrang. Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen definieren besondere Anforderungen an die Bereitstellung von Leistungen der Daseinsvorsorge, die im europäischen Rahmen gesichert werden müssen. Diese sind im Wesentlichen:
  • ein gleichberechtigter und diskriminierungsfreier Zugang für alle Bürger und Bürgerinnen;
  • ein flächendeckendes, an qualitativen Standards orientiertes, dauerhaftes und verlässliches Angebot zu angemessenen Preisen; sowie
  • die demokratische Kontrolle und öffentliche Wahrnehmung der Verantwortung in der Kommunalwirtschaft.
Kommunale Stadtwerke schützen. Nur mit kommunalen Stadtwerken ist ein fairer Wettbewerb in der Energieversorgung möglich. Die bisherige Liberalisierung des Energiebinnenmarktes hat vor allem zu einer Konzentration der Energieversorgungsunternehmen geführt. In Deutschland beherrschen vier Energiekonzerne den überwiegenden Teil der Stromproduktion und damit auch die Strompreise. Diese Entwicklung hat zu unfairen Wettbewerbsbedingungen geführt, die vor allem die kommunalen Stadtwerke benachteiligen. Dabei sind gerade kommunale Stadtwerke mit ihren Leistungen der Daseinsvorsorge vor Ort von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung. Sie sind vor Ort verwurzelt, tragen zur regionalen Wertschöpfung bei, schaffen und erhalten zukunftssichere und zukunftsorientierte Arbeitsplätze, investieren lokal, schaffen Mobilität im Rahmen des Öffentlichen Personennahverkehrs und engagieren sich kulturell und bürgerschaftlich in Bereichen, für die sich ein privates Energieversorgungsunternehmen nicht interessieren würde. Zudem leisten Stadtwerke einen wichtigen Beitrag für den Klimaschutz, denn vor allem kleine und mittlere Stadtwerke investieren in dezentrale Erzeugungsanlagen zur Förderung regenerativer Energien und Kraft-Wärme Kopplung.

IV. Europa und Baden-Württemberg

Baden-Württemberg muss mehr Impulse für Europa geben. Baden-Württemberg muss mit seinen engen wirtschaftlichen Verflechtungen und seiner zentralen Lage in Europa deutlich mehr Impulse in und für Europa geben und eine Vorreiterrolle einnehmen. Seine Exportstärke muss mit einer entsprechenden politischen Präsenz einhergehen, auswärts wie daheim.

Baden-Württemberg muss seine reaktive Haltung in der Europapolitik aufzugeben und aktiver als bisher die europäischen Möglichkeiten für eine Stärkung des Wirtschaftsstandortes Baden-Württemberg zu nutzen.

Lissabon-Prozess mitgestalten. Die Fortentwicklung Europas zum wettbewerbsfähigsten Raum für Forschung und Qualifizierung eröffnet dem Land gute Chancen, europäische Impulse zu setzen. So muss es sich das Land zur Aufgabe machen, für Europa vorbildlich die Übergänge von Forschung und Entwicklung in eine nachhaltige industrielle Produktion zu verbessern. Dieses ist eine Schicksalsfrage für die überwiegend mittelständisch strukturierte Wirtschaft und somit für die industrielle Kompetenz des Landes. Zudem muss die berufliche Qualifizierung zu einem Modell für Europa weiterentwickelt werden.

Europakonformes Tariftreuegesetz für Baden-Württemberg. Die SPD Baden-Württemberg setzt sich dafür ein, dass der Wettbewerb bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen nicht auf den Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgetragen wird. Erforderlich ist ein Tariftreuegesetz, das die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen voraussetzt.

Den ländlichen Raum stärken. Ein starkes Europa braucht einen starken und leistungsfähigen ländlichen Raum. Hierzu muss im ländlichen Raum ein angemessenes Angebot öffentlicher Leistungen gewährleistet werden. Daher ist ein rechtlicher Rahmen für lokale Dienstleistungen und die lokale Daseinsvorsorge zu schaffen, der die Besonderheiten der Bedürfnisse des ländlichen Raums im Wettbewerbs- und Beihilferecht berücksichtigt. Der ländliche Raum besteht nicht nur, aber auch aus der Landwirtschaft. Die Gemeinsame Agrarpolitik muss zugleich einer leistungsfähigen und ökologischen Landwirtschaft im ländlichen Raum zum Erhalt einer nachhaltigen Kulturlandschaft einerseits und zum Erreichen der umwelt- und klimapolitischen Ziele andererseits verwendet werden. Der ländliche Raum muss an die europäischen Verkehrsnetze angeschlossen werden. Eine flächendeckende Kommunikations-Infrastruktur soll durch einen entsprechenden Ausbau europäischer Förderlinien unterstützt werden.

EU-Fördermöglichkeiten besser nutzen. Jedes Jahr unterstützt die Europäische Union das Land Baden-Württemberg mit einem Großen Fördervolumen. Im letzten Europabericht der Landesregierung werden die Fördergelder auf 624 Millionen Euro beziffert. Davon ist der größte Anteil in Landwirtschaftsbetriebe und ländliche Räume investiert worden, sowie in Projekte der Wissenschaft, der Kunst und Kultur, in die Mittelstandsförderung, in Beschäftigungs- und Ausbildungsprogramme sowie in die Schulsozialarbeit.

Der hohe Betrag täuscht aber darüber hinweg, dass mangels Kofinanzierung nicht alle Fördermittel, welche die Europäische Union bereit stellt, in Baden-Württemberg abgerufen werden. Der Grund dafür ist häufig in der mangelnden finanziellen Beteiligung des Landes zu suchen. Damit wird die Hauptlast der Finanzierung auf die Schultern der Kommunen und sonstigen Träger abgeladen.

Fördergelder effektiv verteilen. Die Fördermittel müssen nach Bedarf verteilt werden, nicht über die Gießkanne oder über Windhundverfahren. Die Förderrichtlinien des Landes für die Förderung durch den Europäischen Sozialfonds und den Europäischen Regionalfonds müssen entsprechend umstrukturiert werden. Profitieren müssen die Kommunen im ländlichen Raum ebenso wie die starken Metropolregionen.

Für eine innovationsgesteuerte Förderung. Die Landesregierung nutzt die Möglichkeiten der europäischen Strukturförderung zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Baden-Württembergs nicht ausreichend und setzt unverändert auf die Steuerung der Regionalförderung über das Landwirtschaftsministerium. Dieses sieht auch die Europäische Kommission so, die das operationelle Programm der Landesregierung zunächst abgelehnt hatte.

Die SPD Baden-Württemberg möchte die Förderschwerpunkte auf die Bereiche konzentrieren, welche die Wettbewerbsfähigkeit des Landes fördern und dabei besonders innovativ sind.

Regionale Zusammenarbeit. Europa lebt in Regionen. Die regionale Zusammenarbeit über die Grenzen unseres Landes und der Bundesrepublik hinweg, werden wir weiter vertiefen und verbreitern, damit die Hemmnisse im alltäglichen Leben abgebaut werden können. Insbesondere bei der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung können wir den konkreten Nutzen der EU für die Menschen regional aufzeigen. Baden-Württemberg muss hierbei eine Vorreiterrolle einnehmen.

Die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn in der Schweiz muss verbessert werden. Wir begrüßen ihre Schritte nach Europa, hoffen aber, dass die Schweiz bald den Weg in die EU als Vollmitglied mit allen Rechten und Pflichten findet. Insbesondere bei der Regulierung der Kapitalmärkte, der Bekämpfung der Steuerflucht, Durchlässigkeit der Arbeitsmärkte oder der Einhaltung der Standards der Flugsicherung besteht Handlungsbedarf.

V. Europas globale Verantwortung

Globalisierung sozial gestalten. Wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen wollen die europäischen Handlungsmöglichkeiten nutzen, um wirtschaftlichen Wohlstand, Frieden für eine gerechte Weltordnung, Demokratie und Menschenrechten zu fördern.

Die Umsetzung der Millenniumsziele zur Bekämpfung der Armut in der Welt bilden die Grundlage für das globale Engagement der Europäischen Union. Hierbei muss die Europäische Union mit ihrem wirtschaftlichen Potenzial voran schreiten.

Europa schafft globale Handlungsfähigkeit. Die Bündelung der europäischen Interessen müssen für die Umsetzung von internationalen Sozial-, Umwelt- und Beschäftigungsstandards genutzt werden. Die Europäische Union muss bei der Weiterentwicklung der Standards in den zuständigen internationalen Organisationen mit einer Stimme sprechen.

Maßnahmen zum Klimaschutz ausweiten. Die Bekämpfung des Klimawandels gehört zu den dringlichsten Aufgaben unserer Zeit. Die Folgen von Umweltzerstörung und Treibhausgas-Emissionen sind inzwischen zu einer der global bedeutendsten Herausforderungen der Menschheit geworden.

Die Europäische Union muss bei der Bekämpfung des globalen Klimawandels eine Vorreiterrolle einnehmen. Bereits verabschiedete Ziele müssen rasch umgesetzt und europäische Umweltstandards und -technologien weiterentwickelt und gezielt gefördert werden. Dabei müssen die Prioritäten auf der Abkehr von dem heutigen Energiesystem liegen, das unverändert auf fossilen Ressourcen ausgerichtet ist. Eine nachhaltige Entwicklung in der Welt kann nur durch eine Neuausrichtung der Energieversorgung erfolgen, deren wichtigste Eckpunkte die Energieeinsparung, die Energieeffizienz, die Steigerung der erneuerbaren Energien und der rasche Ausstieg aus der risikoreichen Atomkraft sind. Bis zum Atomausstieg müssen die Sicherheitsstandards auf einem hohen Niveau angeglichen werden.

Erneuerbare Energien ermöglichen eine ökologische und klimafreundliche Energieversorgung. Die Forschung zu regenerativer Energien und Technologien sind zudem ein wichtiger europäischer Standortfaktor geworden. Sie eröffnen noch dazu die Möglichkeiten für eine europäische, nationale, regionale und lokale Energieautonomie. Dabei muss die ganze Bandbreite regenerativer Energien von der Bioenergie, der Geothermie, der Solarstrahlung, der Wind- und Wasserkraft in einem Energiemix gebündelt werden.

Um leistungsgerechte Energiepreise erzielen zu können, muss das europäische Wettbewerbsrecht vollständig angewandt werden.

Soziale Verantwortung über die Grenzen der Europäischen Union hinaus. Wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen wissen um die Verantwortung der Europäischen Union in der Welt und wollen Europa als globale Friedenskraft etablieren. Europa muss als Raum des Friedens und der Sicherheit eine stabilisierende Rolle in der Welt einnehmen. Das Europäische Parlament muss bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vollkommen gleichberechtigt werden. Deshalb wollen wir, dass Empfehlungen des Rates in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Zustimmung des Europäischen Parlaments bedürfen.

Als Instrumente wollen wir die Entwicklungshilfe ausbauen, die zivile Krisenpräventionen stärken und die europäische Nachbarschaftspolitik ausbauen.

Regionale Bündnisse stärken. Die europäische Integration hat beispiellos in der Welt Frieden gebracht und den Wohlstand gemehrt. Europa steht als Beispiel für wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und kulturellen Ausgleich und kann Modell sein für andere friedensstiftende Bündnisse von Staaten und Völkern in der Welt.