"Tacheles zum Landesparteitag!"

Veröffentlicht am 01.09.2007 in Pressemitteilungen

Vor dem Landesparteitag am 21./22. September in Fellbach wendet sich die SPD-Landesvorsitzende Ute Vogt in der neuen Ausgabe der Parteizeitung VORWÄRTS an die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Baden-Württemberg.

TACHELES ZUM LANDESPARTEITAG

Liebe Genossinnen und Genossen,

unser ordentlicher Landesparteitag am 21./22. September in Fellbach steht vor der Tür. Viel wurde in der so genannten "Sommerpause" über die Landespartei und mich als Person berichtet. Ute Vogt – kann sie, will sie, soll sie wieder kandidieren, oder ist es nicht besser, den Weg für jemand anders an der Spitze frei zu machen? Ist es nicht in einer Zeit allgemeinen Unwohlseins über die Juniorpartnerrolle der SPD im Bund, angesichts geschickt platzierter 19-Prozent-Umfragen im Land und im Hinblick auf die derzeitige Welle "neulinker", demagogischer Konkurrenz die Stunde, auf neue Köpfe zu setzen? Endlich den oft ersehnten "Befreiungsschlag" für die SPD zu wagen, zumindest in Baden-Württemberg?

Genossinnen und Genossen, wenn die Lösung aus dem aktuellen Stimmungstief unserer Partei und aus der vorhandenen Verunsicherung vieler Parteimitglieder so einfach wäre, könnte ich für mich schlichte Konsequenzen ziehen. Doch die Situation der SPD ist so wenig eindimensional, so komplex wie die gesellschaftliche Wahrnehmung in unserem Land. Ich will euch in diesem Brief im Vorfeld des Landesparteitags einige meiner Gedanken zur Situation und Zukunft unserer Partei übermitteln – und damit euren Kampfgeist neu beleben.

Stolz auf SPD-Handschrift in Großer Koalition

Losgelöst von allen landespolitischen Betrachtungen und Befindlichkeiten treibt es mich als Sozialdemokratin tagtäglich um, dass viele von uns im Blick auf die Große Koalition immer mehr die Köpfe hängen lassen und alle Errungenschaften als One-Woman-Show von Frau Merkel hinnehmen. Die aktuelle Politik bezeugt doch das Gegenteil: Beste Staatseinnahmen durch finanzpolitische Hartnäckigkeit, sinkende Arbeitslosigkeit und Fortschritte beim allgemeinen Mindestlohn, allgemeine Bewunderung für Friedensstiftung und außenpolitische Verständigung, die Durchsetzung konkreter klimapolitischer Maßnahmen, familienpolitische Meilensteine etwa in der Kleinkindbetreuung – das alles sind Erfolge von SPD-Ministern oder die Umsetzung von SPD-Programmatik gegen oft grummelnde Unionsparteien! Das ist klare sozialdemokratische Handschrift, und das seit Jahren!

Sicher: Auch ich bin keineswegs der Ansicht, dass wir angesichts der derzeitigen Grundstimmung Anlass zur Euphorie hätten, sondern wir müssen weiter hart dafür arbeiten, dass der Aufschwung für alle wahrnehmbar wird. Aber gerade deshalb müssen wir in dieser Koalition gemeinsam dran bleiben und uns nicht ständig in Selbstzweifeln ergehen – Stichworte: Mindestlohn, Arbeitnehmerrechte, Bürgerversicherung, Atomausstieg, um nur einige Beispiele zu nennen. Und da haben wir überhaupt keinen Grund, in Resignation zu verfallen. Das zeichnet die Sozialdemokratie aus: Mut, Überzeugungskraft, Gestaltungswillen! Mehr Selbstbewusstsein, Genossen, nach neun Jahren Regierungsbeteiligung im Bund! Wir können stolz darauf sein!

Kärrnerarbeit statt Panikmache

Freilich, es stimmt: Wir profitieren als Oppositionspartei im Land zu wenig aus den Fehlern der Landesregierung. Dabei ist diese Regierung um Günther Oettinger wirklich ein Unheil für Baden-Württemberg: die weltweit gerügte Katastrophenrede auf der Filbinger-Beerdigung, die weltweit kritisierte Peinlichkeit um die badischen Kulturgüter, eine weltweit rückständige – ja: reaktionäre! – Bildungspolitik mit der dramatischen Hauptschulmisere und dem Waterloo des Zwangs-Französisch’ an der Rheinschiene – um nur die prominentesten Beispiele zu nennen. Die vielfältigen Hoffnungen und Erwartungen an die Oettinger-Regierung fallen eineinhalb Jahre nach der Landtagswahl schlicht und ergreifend ins Nichts!

Doch in unserem immer noch wohlhabenden Land mit vergleichsweise geringer Arbeitslosigkeit ist die Wechselbereitschaft der Wähler nach wie vor niedrig. Das ist kein zwar kein Novum dieser Wochen und Monate, sondern das erleben wir schon seit vielen Jahren; Erhard Eppler, Ulrich Lang, Dieter Spöri und andere wissen, wovon ich rede. Und ich weiß: Das macht es weder besser noch einfacher. Aber um so mehr, Genossinnen und Genossen, müssen wir gemeinsam langfristig auf Aufbauarbeit, auf Überzeugungsarbeit, auf Kärrnerarbeit setzen, anstatt uns selbst in Panik fertig zu machen! Wir haben mit dem systematischen Bildungsaufbruch der Landtagsfraktion, mit unserer umweltorientierten Industriepolitik und vor allem mit unseren frühzeitigen Kraftanstrengungen um Generalsekretär Jörg Tauss für die Kommunalwahlen 2009 in diesem Jahr die Weichen dafür gestellt, substanziell etwas zu verändern. Im Übrigen: Ich würde mich sehr freuen, wenn auch von kritischen Medienvertretern einmal zur Kenntnis genommen würde, dass die Kandidatinnen und Kandidaten der SPD im Land eine Oberbürgermeisterwahl nach der anderen gewinnen – mit Unterstützung des Landesverbands, so weit dies jeweils möglich ist.

Vor diesem Hintergrund ein Wort zu der Forderung einzelner Mandatsträger, wir sollten jetzt den nächsten Spitzenkandidaten oder die Spitzenkandidatin für die Landtagswahl 2011 bestimmen. Genossinnen und Genossen – ich bitte darum: Wir müssen unsere fünf Sinne behalten! Aus gutem Grund hält sich Kurt Beck bis heute eisern mit der Benennung des Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl 2009 zurück! Es hat keinen Sinn, jetzt jemanden aufs Schild zu heben (wen auch immer, das spielt dabei keine Rolle), der oder die sofort medial aufs Korn genommen und in den nächsten vier Jahren zerpflückt würde! Lassen wir uns doch nicht als saure Gurke von der Presse treiben! Vor allem: Geben wir selbst keine Gelegenheit dazu! Solange Personaldebatten die öffentliche Diskussion beherrschen, wird jede inhaltliche Auseinandersetzung mit der Landesregierung dahinter verblassen!

Führung als Landesvorsitzende

Ich kandidiere auf dem Landesparteitag wieder als Landesvorsitzende. Um es klar zu sagen: Ich will die SPD Baden-Württemberg auch in den nächsten Jahren in dieser Spitzenfunktion inhaltlich und personell führen; integrativ, diskursiv und vorwärtsgerichtet – und nicht spalterisch, autoritär und rückwärtsgewandt. Und über die Zukunft des Fraktionsvorsitzes entscheidet die Landtagsfraktion in ihrer Gänze zur Hälfte der Legislaturperiode, wie dies schon immer der Fall war – nun also Mitte 2008. Lassen wir uns doch auch hier keine undringlichen Fahrpläne und kontraproduktiven Debatten aufzwingen! Darum bitte ich alle Verantwortlichen klipp und klar!

Damit kein Missverständnis entsteht: Auch ich habe in der Vergangenheit Fehler gemacht, und wir alle müssen in vielerlei Hinsicht zulegen. Aber, um es nochmals mit Kurt Beck zu sagen: Auch ich halte es mit den "Mühen der Ebene", denn die vielbeschworenen politischen "Befreiungsschläge" werden nicht kommen, mit Niemandem. Nicht im Bund und nicht im Land. Wir müssen uns auf uns selbst und unsere Kraft besinnen, so altbekannt dies lauten mag – und nicht auf die Linkspopulisten schielen, die den Menschen das Blaue vom Himmel versprechen; ein untergegangener Himmel, übrigens.

Liebe Genossinnen und Genossen, dies ist kein Basta-Aufruf, keine Durchhalteparole und schon gar keine persönliche Lamoryanz nach dem Sommertheater. Aber jetzt muss im Angesicht der Realität Tacheles geredet werden, um dann nach dem Landesparteitag gemeinsam die Zukunft zu gewinnen. Ich habe große Lust darauf, die SPD Baden-Württemberg zu führen, und ich will bei aller Ernsthaftigkeit der Gesamtsituation keinen Grund sehen, uns verrückt machen zu lassen. An mir wird es nicht liegen, in keinem Fall.

In diesem Sinn freue ich mich auf einen offenen und ehrlichen Parteitag.

Herzlichst!
Eure Ute Vogt
Landesvorsitzende