Landesparteitag in Fellbach 21. und 22. September 2007

Rede von Ute Vogt

Liebe Genossinnen, liebe Genossen,

vor fast genau 100 Jahren tagte im August 1907, wenige Kilometer von hier in Stuttgart, der internationale Sozialistenkongress. Die deutsche Sozialdemokratie, die noch wenige Jahre zuvor den schlimmsten Verfolgungen ausgesetzt war, stand an der Spitze der Arbeiterbewegung. August Bebel eröffnete den Kongress und zur Kundgebung am ersten Tag kamen 60.000 Menschen. Sie kamen, weil die Sozialdemokratie Antworten hatte auf die Fragen, die diese Menschen bewegten.

Und das, liebe Genossinnen und Genossen, ist unser Maßstab. Herbert Wehner hat das aus meiner Sicht schon 1967 treffend formuliert, als er feststellte: „Manche Politiker scheinen das politische Leben nur lebenswert zu finden, wenn sie auf einen Feind einhauen können. Dabei sollte es doch vor allem Ihre Sorge sein, Verhältnisse zu schaffen, in denen die Menschen zurechtkommen können.“

Und diese Sorge, liebe Genossinnen und Genossen, muss unsere Arbeit bestimmen. Die Sorge um über 140.000 Kinder, die bei uns im wohlhabenden Baden-Württemberg auf Sozialgeld angewiesen sind. Die Sorge um 3.044 Mädchen und 4.888 Jungen, die im letzten Jahr die Schule ohne jeden Abschluss verlassen haben oder um die fast 300.000 Frauen und Männer, die trotz Wirtschaftsaufschwung bei uns im Land arbeitslos sind.

Wer, wenn nicht die Sozialdemokratie, soll für diese Menschen Gerechtigkeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erstreiten? Die CDU im Land, die seit Jahrzehnten gut damit leben kann, dass ein Teil der Baden-Württemberger am Rande steht und zuschauen muss? Die Grünen im Land, die ähnlich der FDP heute in erster Linie um die Wählerschichten in den Halbhöhenlagen der Städte bemüht sind? Oder selbsternannte „Linke“ und Möchtegernsozialisten, die unter Sozialstaat das Verteilen von Geldscheinen an jedermann verstehen?

Wir haben allen Grund stolz darauf zu sein, dass wir es sind, die zusammen mit der Arbeiterbewegung für den Aufbau der sozialen Sicherung gesorgt haben! Und wir haben keinen Grund, einen Bruch mit unserer eigenen Geschichte zu vollziehen – das gilt auch für die jüngere Geschichte unserer Regierungszeit. Gerd Schröder hat Recht, wenn er uns zuruft: „Warum lasst ihr zu, dass sich jetzt andere mit Federn schmücken, die ihnen nicht gehören?“

Seien wir selbstbewusst und stolz auf unsere Leistungen! Wir haben doch dem spießigen Konservatismus ein Ende bereitet! Integration ist endlich als politische Aufgabe anerkannt! Deutschland bekennt sich dazu ein Einwanderungsland zu sein!

Ganztagsschulen konnten selbst die konservativsten Landesregierungen wie Bayern und Baden-Württemberg nicht mehr verhindern. Kinderkrippen werden von einer CDU-Ministerin offensiv eingefordert. Schwule und Lesben haben gleiche Rechte und ihre Lebensformen sind anerkannt. Noch nicht einmal die CDU im Land kann heute darauf verzichten, beim Christopher-Street-Day mit einem Wagen dabei zu sein. Da hat sich doch unglaublich was bewegt seit Helmut Kohl und Erwin Teufel! Und wir haben das in Bewegung gesetzt, liebe Genossinnen und Genossen!

Was wäre mit der solidarischen Sicherung ohne die SPD?! Ich zitiere: „Seit den frühen 90er Jahren haben wir eine Wachstumsschwäche erlebt. Sie zu überwinden war eine der Hauptaufgaben der Regierung von Gerhard Schröder. Die Reformen wirken jetzt. Wir als SPD haben einen hohen Preis dafür gezahlt. Unsere Hauptaufgabe für die Zukunft muss sein, für die soziale Sicherheit, solidarische Absicherung im Alter zu sorgen und gegen elementare Lebensrisiken vorzubeugen. Die gesellschaftspolitische Vision der SPD lautet: ‚Dreiklang aus wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, sozialer Sicherheit und ökologischer Verantwortung’. Dafür steht auch der SPD Ortsverein Laudenbach. Wir stehen zu unserer Verantwortung in der Gemeinde und in der Gesellschaft.“

So, liebe Genossinnen und Genossen, bekennt sich der Vorsitzende des Ortsvereins von Laudenbach, Hans-Jürgen Moser, in der Zeitung seines Ortsvereins. Diese Klarheit bei allen Mandats- und Funktionsträgern – da können wir manches von unserer Basis lernen!

Gerade hier in Baden-Württemberg gab es mehr als in anderen Bundesländern Debatten darüber, dass Menschen, die arbeiten, zum Teil weniger verdient haben als andere, die Leistungen vom Staat beziehen. Bei uns im Land haben große Firmen massenweise Leute entlassen und sie auf Kosten der Sozialkassen in den Vorruhestand geschickt. Wo wären denn der Flächentarifvertrag, Kündigungsschutz und die Mitbestimmung, wenn Merkel und Westerwelle das Sagen hätten? Ihr kennt die Antwort, also gebt sie auch anderen!

Also noch mal: Freuen wir uns nicht nur an Geschichte und Tradition der SPD, sondern bekennen wir uns auch zu der jüngeren Geschichte und zur Verantwortung in der Gegenwart. Und reden wir den baden-württembergischen Anteil an den Reformideen nicht klein.

Wir waren der Landesverband, der als erstes schon 1997 auf dem Parteitag in Aalen den neuen Generationenvertrag gefordert hat – und darin wichtige Teile der Rentenreform, die mit der „Riester-Rente“ zur Erfolgsgeschichte wurde. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie Rudolf Dressler sich damals Martin Bury, Christoph Matschie und mich vorgeknöpft hat, weil wir die Beschlüsse aus Baden-Württemberg in die Bundestagsfraktion getragen haben. Heute nähert sich die Zahl der Riester-Verträge der Zehn-Millionen-Grenze! Klasse, Walter Riester, wir sind froh, dass Du einer von uns bist!

Dann 2003 in Heilbronn der Beschluss zur Abschaffung der Wehrpflicht. Wir haben damit dazu beigetragen, dass auch in der SPD eine kritische Diskussion um die Wehrgerechtigkeit geführt wurde und der Bundesparteitag jetzt jedenfalls den Weg zur Freiwilligkeit bei der Wehrpflicht beschreitet. Oder die Erweiterung und Festigung der Gewerbesteuer auf kommunaler Ebene; auf Bundesebene jetzt in der Großen Koalition umgesetzt – gegen eine CDU, die die Gewerbesteuer am liebsten ganz abgeschafft hätte. Und von uns seit 2003 auf allen Ebenen mit vorangetrieben!

Ich kann die Aufzählung über viele Parteitage fortsetzen: 2003 in Wiesloch der große Leitantrag „Beschäftigung sichern – Gerechtigkeit durchsetzen“; 2004 in Leinfelden-Echterdingen der konkrete Maßnahmenkatalog zur Energiepolitik in den Kommunen; bereits 2005 die „Karlsruher Erklärung“ mit der Forderung nach Beitragsfreiheit in den Kindergärten und nach der Einführung der sechsjährigen Grundschule oder zuletzt in Bühl unser Beitrag zum Grundsatzprogramm – für die Überwindung des dreigliedrigen Schulsystems, bundesweit! Für eine dezentrale Energiepolitik ohne Atom – und künftig auch ohne Kohle – und dafür, dass das Schienennetz der Deutschen Bahn in öffentlicher Hand und Verantwortung bleibt.

Liebe Genossinnen, liebe Genossen, gerade weil wir diese Positionen zusammen und zum großen Teil unter aktiver Mitwirkung von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern – und gerade im sozialpolitischen Bereich auch zusammen mit Rainer Bliesener – erarbeitet haben, bedauere ich, dass er nicht mehr für den Landesvorstand zur Verfügung steht.

Lieber Rainer, wir sind in einer Zeit, in der viele Themen und Weichenstellungen eine neue Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Politik erfordern. Ich habe mich gefreut, dass der DGB-Landesvorstand am Dienstag deutlich erklärt hat, dass für euch die Zusammenarbeit mit allen politischen Parteien wichtig bleibt und dass ihr euch in diesem Zusammenhang auch zu dem traditionell engeren Verhältnis zwischen Gewerkschaften und der Sozialdemokratie ausdrücklich bekannt habt. Und die Anwesenheit aller Vorsitzenden der wichtigen Gewerkschaften des Landes ist ein weiterer Beleg dafür. Schön, dass ihr da seid!

Denn viele Themen der aktuellen Tagespolitik erfordern eine neue Gemeinsamkeit von SPD und Gewerkschaften. Einen wichtigen Schritt haben wir bereits in enger Abstimmung mit der IG Metall im Land in Gang gesetzt: Die notwendigen Übergangsregelungen zur Rente mit 67. Wir sind uns einig, dass ein Dachdecker mit 66 Jahren nicht mehr aufs Dach geschickt werden kann, dass ein Arbeiter am Bau mit 67 Jahren nicht mehr bei Wind und Wetter draußen arbeiten muss, dass einem Schichtarbeiter mit 66 Jahren der Tag/Nacht-Wechsel nicht mehr zugemutet werden darf und dass es unsinnig ist, wenn ein Polizeibeamter mit 66 Jahren einem 18-jährigen Ladendieb hinterher hecheln muss!

Die Beispiele zeigen, dass wir flexible Übergänge brauchen. Ein Ministerialbeamter, der im Büro arbeitet, kann nicht mit einem Arbeiter am Bau oder einem Schichtarbeiter gleichgesetzt werden. Schon im letzten Landtagswahlkampf war unsere Forderung, dass Unterschiede gelten müssen.

Anfang des Jahres wurde im Willy-Brandt-Haus die Arbeitsgruppe "Arbeitsbedingungen verbessern – Rentenzugang flexibilisieren" eingerichtet. Die Arbeitsgruppe hat Vorschläge für gleitende Übergänge aus dem Erwerbsleben in die Altersrente ab dem 60. Lebensjahr erarbeitet. Es ist nicht zuletzt unser Verdienst, das wir darüber auf dem Bundesparteitag in Hamburg reden und beschließen werden.

Und es bleibt unser Anspruch. auch weiter Impulsgeber zu bleiben. Im Arbeitsprogramm für den Landesvorstand schlage ich euch als eines von zwei Schwerpunktthemen “Gute Arbeit und Leistungsgerechtigkeit“ vor.

Wo, wenn nicht in Baden-Württemberg, ist es wesentlich, auch die Leistungen der Leistungsträger, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen? Deutlich zu machen, dass wir erwarten, dass alle teilhaben am Wohlstand? Dass in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs auch etwas an die Menschen zurückgegeben wird? Lasst uns auch gegenüber der Bundesregierung für die Wiedereinführung der Pendlerpauschale streiten! Damit die arbeitenden Menschen spüren, dass sie am Wirtschaftsaufschwung teilhaben! Machen wir gemeinsam die schlechten Arbeitsbedingungen und die zu niedrige Bezahlung dort zum Thema, wo Menschen gute Arbeit leisten, die nicht honoriert wird!

Im Bewachungsgewerbe in Baden-Württemberg: 1.335 Euro (40 Stunden/Woche); Hotel- und Gaststättengewerbe: 1295 Euro (39 Stunden/Woche); Friseurinnen in Baden-Württemberg: 1006 Euro (37 Stunden/Woche) – diese Menschen haben anständigen Lohn für gute Arbeit verdient! Und viele andere, besonders in Branchen, in denen es keine Tarifabschlüsse gibt, sind darauf angewiesen, dass wir in Deutschland für die Einführung des Mindestlohns streiten!

Und wenden wir uns dem Thema Leiharbeit zu, das gerade bei uns im Land zu großen Unsicherheiten bei vielen Beschäftigten führt und junge Familien daran hindert, ihre Zukunft in Sicherheit zu planen. Ich bin nicht generell gegen Zeitarbeit, damit da kein Missverständnis aufkommt. Viele Beschäftigte finden über diesen Weg wieder Zugang zu einer unbefristeten Erwerbsarbeit.

Aber was derzeit in diesem Feld geschieht, ist schlicht grenzenloser Missbrauch. Diesen gilt es wirkungsvoll zu bekämpfen! Zum Beispiel durch eine zeitliche Begrenzung der Überlassungsdauer.
Auf jeden Fall aber durch die Aufnahme der Zeitarbeitsbranche in das Arbeitnehmerentsendegesetz, um verbindliche Mindestlöhne und Mindestarbeitsbedingungen für Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer sicherzustellen.

2009 kommt die nächste Bundestagswahl, für die Merkel und Westerwelle bereits ihre Linie abstimmen. Die Medien sind sich einig: Sozialdemokratische Positionen sind heute mehrheitsfähig in unserer Gesellschaft.

Das ist doch der Grund, warum eine CDU-Ministerin nun unsere Forderungen nach besserer Betreuung, nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf, nach Kinderkrippen und seit neuestem sogar – wenn auch erst als Versuchsballon – nach Veränderung des Ehegattensplittings aufgreift! Aber eine medienwirksame Familienministerin macht aus der CDU noch keine fortschrittliche Partei! Da genügt der Blick auf die Regierungspraxis im Land! Nehmen wir als Beispiel die Krippenversorgung: Auf 100 Kinder kommen knapp 7 Krippenplätze! Im 18. Jahr nach der deutschen Einheit hinkt das angebliche Kinderland Baden-Württemberg noch meilenweit hinter Ländern wie Brandenburg oder Sachsen-Anhalt her, wo für jedes zweite Kind ein Platz angeboten wird!

Ein Ministerpräsident, der „Kinderland“ zum Zentrum seines Landtagswahlkampfs gemacht hat, versagt beim Thema Kinderpolitik auf der ganzen Linie. Die Lücke bei der Ganztagsbetreuung ist in allen Altersgruppen nach wie vor verheerend – und die Ganztagsschulen im Land können den pädagogischen Anforderungen nicht genügen, weil die Landesregierung lieber Modellprojekte einrichtet, anstatt für genügend Lehrerinnen und Lehrer zu sorgen. 8.300 Frauen und Männer stehen 2007 gut ausgebildet als Lehrerinnen und Lehrer dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Mit nur 3.750 Einstellungen versäumt die Landesregierung, den dringenden Fehlbedarf an den Schulen zu korrigieren: Die Klassen zu verkleinern und endlich aus den Ganztagsschulen auch echte Ganztagsschulen zu machen, die den Kindern und den Lehrkräften gerecht werden können.

Und es werden tausende junge Menschen in die Arbeitslosigkeit geschickt, die man noch vor wenigen Jahren dringend zum Lehramtsstudium ermutigt hat. Verantwortungslos, gerade in einem Land, das auf der anderen Seite die gut Ausgebildeten mehr als jedes andere braucht, um den Bedarf an Fachkräften für die Zukunft zu erhalten! Hier geht es um Chancen für jedes einzelne Kind, aber auch um die effektivste Form der Wirtschaftsförderung, die unser Land in der Hand hätte!

Und statt allen Kindern gerechte Bildungschancen zu ermöglichen, fehlt auch in Sachen Hauptschule jeglicher Mut gegenüber dem eigenen tief konservativen Klüngel in der Landes-CDU. Bemerkenswert ist doch, dass selbst die wenig bewegliche FDP im Land nach dem Besuch in Schleswig-Holstein vom Erfolg der Gemeinschaftsschulen überzeugt war. Gerne hören wir, dass auch die FDP jetzt eine sechsjährige Grundschule fordert. Willkommen im Club! Neben Rechts- und Innenpolitik also ein weiterer Baustein, den wir in einer Ampelkoalition in Baden-Württemberg gut verwirklichen können!

Aber lasst mich noch mal zum „Kinderland“ zurückkommen. Ein schöner Begriff. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten füllen ihn mit Inhalten und fordern die Landesregierung heraus. Lasst uns beschlossene Reformen weiterentwickeln. Wir haben die Sozialleistungen von Einzelleistungen zu pauschalen Auszahlungen verändert. Aber in der Realität leiden darunter besonders die Kinder in unserem Land. Wenn im Regelsatz für Kinder von Hartz-IV-Empfängern 1,35 Euro für Schreibwaren und Zeichenmaterial enthalten ist, dann ist das nicht genug und führt zu greifbaren Nachteilen für die, die ohnehin bereits benachteiligt sind!

Tragen wir also dafür Sorge, dass zum Schulanfang und anderen besonderen Gelegenheiten die einmaligen Beihilfen für Kinder wieder zur Verfügung stehen. Gerne greife ich dabei den Vorschlag von Franz Müntefering auf, dies auch in Form von Sachleistungen zu tun. Damit das Geld auch wirklich den Kindern zugute kommt.

Das erfordert gesetzliche Änderungen im Bund; aber auch den Willen in Kommunen und Ländern, diese Vorgaben im Sinne der Kinder umzusetzen. Hier zusammen mit der Sozialdemokratie auch den Koalitionspartner CDU zu überzeugen, das wäre ein Einsatz für die Kinder im Land, Herr Ministerpräsident!

Leider wird bislang die Stimme des Landes im Bund nur im Zusammenhang mit Peinlichkeiten, unüberlegten Sprüchen oder gar geschichtsvergessenen Reden gehört. Und sogar bei vernünftigen Vorschlägen, wie der Neuordnung des Länderfinanzausgleichs, geht Günter Oettinger so dilettantisch vor, dass sich die Front der Gegner schon organisiert, bevor er auch nur einen Verbündeten dafür gewonnen hat.

Und wo hört man die Stimme eines starken, liberalen und weltoffenen Baden-Württemberg, wenn der Bundesinnenminister und sein Adjutant im Verteidigungsministerium unser Grundgesetz mit Füßen treten? Als Innenminister ist Wolfgang Schäuble der Verfassungsminister! Was ist das für ein Amtsverständnis, wenn der oberste Verfassungsschützer gegen die eigene Verfassung vorgehen will?! Denn Artikel 1 des Grundgesetzes ist unabänderlich und schützt die Menschenwürde! Genau deshalb hat das Verfassungsgericht den Abschuss von Flugzeugen mit unschuldigen Passagieren verboten!

Was ist das für ein Verfassungsminister, was für ein Verteidigungsminister, die mit einer Verfassungsänderung die Menschenwürde aus dem Grundgesetz streichen wollen? Gegen die ständigen Versuche unsere Verfassung auszuhöhlen, ob mit Einsatz der Bundeswehr im Innern oder jetzt dem Extrembeispiel vom genehmigten Abschuss von Passagierflugzeugen? Wir sind es, die diese Strategie durchkreuzen und wir sind es, die ihn auf Bundesebene aufhalten! Ganz im Sinne unseres Landes, das stolz ist auf die jahrhundertealte Tradition des Rechts und des Rechtsstaats in Baden und in Württemberg. Es ist die Sozialdemokratie, die diesen Rechtsstaat und die Rechte seiner Bürgerinnen und Bürger verteidigt!

Liebe Genossinnen und Genossen, zu tun gibt es also genug für uns im Land. Wenden wir uns also der Frage zu, warum es uns so schwer gelingt, für unsere Überzeugungen auch hier in Baden-Württemberg die erforderlichen Mehrheiten zu erhalten.

Ich kann gut verstehen, dass euch schlechte Umfragen Sorge bereiten, auch, wenn ich selbst in Umfragen insgesamt ein äußerst geringes Vertrauen habe. Aber auch unser Wahlergebnis mit 25 Prozent ist ja allein schon Grund genug, unruhig zu sein, zumal wir auch bei den letzten fünf Landtagswahlen nach 1976 in Baden-Württemberg immer unter den 33,3 Prozent von 2001 geblieben sind.

Es ist also mehr als nur der letzte Landtagswahlkampf, was uns in Bezug auf unsere Stärke im Land beschäftigen muss. Aber lasst mich an dieser Stelle auch einige offene Worte zur Wahl 2006 sagen. Der Landtagswahlkampf von 2006 ist bei der Bevölkerung nicht angekommen. Konzeptionell nicht, inhaltlich nicht und persönlich nicht.

Wir hatten uns, begeistert von unserer Aufholjagd bei der Bundestagswahl mit der Konzeption viel zu stark an der Bundeskampagne orientiert. Und haben dabei zu wenig beachtet, dass die Große Koalition trotz deutlicher sozialdemokratischer Handschrift die Menschen – und besonders unsere Anhänger – alles andere als begeistert hat. Wir haben inhaltlich kein Thema so in den Mittelpunkt gerückt, dass der Funke auch emotional auf die Menschen im Land überspringen konnte.

Und wenn ich im Nachhinein das zentrale Wahlkampfportrait von mir betrachte, dann ist es mir selbst schwer erklärbar, wie wir damals glauben konnten, mit so einem strengen Auftritt meine Persönlichkeit sympathisch, offen und bürgernah darzustellen. Die Modernität, die Frische und auch der Humor des Wahlkampfs 2001 haben 2006 in der Kampagne schlicht gefehlt.

Dass ich 2001 in Pforzheim und nicht im sicheren Enzkreis kandidiert habe, war im Rückblick betrachtet eine falsche Weichenstellung. Denn nur so wäre es möglich gewesen, uns gemeinsam mit mir landespolitisch für 2006 aufzubauen. Stattdessen war ich einerseits durch das Regierungsamt viel in Berlin und bundesweit gebunden und habe dann andererseits versucht, meine Präsenz in Baden-Württemberg vor allem durch Auftritte in der Fläche zu halten. Im Landtag und damit in der unmittelbaren landespolitischen Auseinandersetzung fand ich kaum statt (was dem ein oder anderen in der damaligen Landtagsfraktion ja auch gar nicht so unrecht war).

Und nun komme ich zu dem, was ich inzwischen als eine der großen Herausforderungen beschreiben würde: Die Arbeitsteilung, dass die Fraktion im Landtag die Landespolitik bearbeitet und der Rest sich lieber um alle anderen Politikfelder kümmert, müssen wir überwinden! Selbst in Zeiten der Großen Koalition im Land haben wir uns hier nicht als Regierungspartei gefühlt und verhalten. Die Umfrage bei Ortsvereinen und Kreisverbänden hat dies im Übrigen eindrucksvoll bestätigt: An erster Stelle kommt immer die Kommunalpolitik, dicht gefolgt von Bundesthemen – dann kommt lange nichts, dann Landespolitik und danach noch Europa.

Das wirkt sich aus – bis tief in unsere Anhängerschaft: Nur 40 Prozent der SPD-Anhänger im Land finden Landespolitik überhaupt wichtig. Und das erklärt dann auch zum Teil, warum Menschen, die uns noch in der Bundestagswahl die Treue gehalten haben, bei der Landtagswahl schlicht nicht zur Wahl gingen. Und es prägt die Wahlergebnisse: Wie kaum eine andere Partei im Land hängen wir immer unmittelbar am Stimmungstropf der Bundespartei. Unsere Ergebnisse sind fast schon gesetzmäßig immer vier bis sechs Prozent hinter der jeweiligen Stimmung im Bund.

Hier, liebe Genossinnen und Genossen, will ich, müssen wir, umsteuern. Unser wunderbares und starkes Land darf nicht der CDU als Erbhof überlassen werden! Denn diese Stärke verdanken wir nicht der Landesregierung! Die SPD ist spätestens seit Willy Brandt die Partei der mutigen Reformen. Was sich jeweils neu als modernes Allgemeingut durchsetzt, in der Regel gegen langen Widerstand der Konservativen, hat die SPD durch den politischen Diskurs erreicht – auch in Baden-Württemberg: So zum Beispiel die Abschaffung eines Schulwesens, das in öffentlichen Schulen die Kinder noch bis 1966 in katholische und evangelische getrennt hat. Oder die Gemeinde- und Gebietsreform der 70er Jahre, die nur von Walter Krause und mit der SPD umgesetzt werden konnte. Die dialogorientierte Wirtschaftspolitik von Dieter Spöri hat in schwierigem wirtschaftlichem Umfeld tausende von Arbeitsplätzen gesichert und neue durch Existenzgründungen geschaffen. Umgekehrt wäre die größte Reform im Südwesten überhaupt – die Bildung unseres gemeinsamen Landes 1952 – beinahe am konservativen Widerstand gescheitert!

An großen Namen und großen Ideen hat es uns in Baden-Württemberg in der SPD nie gefehlt. Unser Wert bestimmt sich durch unsere Ideen und unsere Beiträge zum Aufbau, zur Geschichte und zur Gegenwart von Baden-Württemberg.

Aber unsere Ideen müssen auch zur Kenntnis genommen werden können. Weder Beschlüsse eines Parteitags, noch die Initiativen der Landtagsfraktion kommen automatisch zur Geltung. Auch nicht in der eigenen Partei. Deshalb verbinde ich mit meiner Kandidatur ein Arbeitsprogramm, das für die nächsten zwei Jahre eine Konzentration vorgibt. Zu Grunde liegt dem Programm die Überlegung, dass wir nicht allein dadurch stark werden, dass wir andere angreifen.

Das haben wir in der Vergangenheit intensiv betrieben und damit nicht unbedingt erfolgreich punkten können. Eine Partei kann nur dann Erfolg haben, wenn neben der Kritik an der Regierung auch eine eigene Perspektive die Menschen anspricht. An die Regierung wird nur gewählt, wer regierungsfähig wahrgenommen wird. Und dazu muss man die Konzepte nicht nur haben, sondern wir müssen auch darüber reden und sie dort, wo wir Einfluss und Verantwortung tragen, einbringen.

In einem wirtschaftlich starken Land wie Baden-Württemberg ist die Wechselstimmung nicht leicht herzustellen. Und nun wollen wir ja nicht, wie damals Franz-Josef Strauss mit seiner „Sonthofen-Strategie“, dass erst alles ganz schlecht und unerträglich wird, damit wir dann als die Retter kommen können. Nein, wir sind stolz auf unser Land und seine Menschen! Und wir müssen daran arbeiten, dass niemand die Sorge hat, dass das Land mit uns weniger erfolgreich wäre.

„Wir machen nicht alles anders, aber vieles besser“ – in kaum einem anderen Land haben wir 1998 mit dieser Perspektive so viele Stimmen dazu gewonnen wie in Baden-Württemberg. Nicht alles anders; aber sozialer, gerechter und direkt dran am Alltag der Menschen. Das muss unser Markenzeichen werden!

Liebe Genossinnen und Genossen, dies aufzubauen geht nicht in wenigen Monaten. Aber es geht, wenn wir uns über die Richtung einig sind, Schritt für Schritt. Das Arbeitsprogramm für die Schritte des Landesverbands in diese Richtung liegt euch schriftlich vor. Ich werde mich daher auf einige wenige Hinweise beschränken. Ich will die Konzentration auf insgesamt vier Ziele.

1. Stärkung der kommunalen Basis im Vorfeld der Kommunalwahl 2009

Hier gilt es, von den erfolgreichen Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker zu lernen. Die SPD stellt im Land 30 Oberbürgermeister und Oberbürgermeisterinnen und damit nur vier weniger als die CDU. Zusammen mit 53 Bürgermeistern haben wir ein hier enormes Potential an Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, denen die Menschen ihr Vertrauen geschenkt haben. Mit Ihnen werden wir uns eng abstimmen, um die Kommunalwahl optimal vorzubereiten.

Es gilt, Menschen für die Mitarbeit zu gewinnen. Wir werden daher in Zusammenarbeit mit den Kreisverbänden mit jedem Ortsverein Kontakt aufnehmen, um den Bedarf an Unterstützung zu erfahren. Die politischen Initiativen im Landtag, Bundestag und im Europaparlament werden wir, wo immer das thematisch geht, so aufbereiten, dass sie für die Arbeit in den Städten, Gemeinden und Kreistagen nutzbar sind. Wer die Landesseite nicht so intensiv liest – und das tun leider viele Bürgerinnen und Bürger im Land –, der muss über die SPD vor Ort die Themen wieder erkennen.

2. Profilierung der SPD in zwei zentralen politischen Themenfeldern für Baden-Württemberg

Ich schlage euch vor, dass wir uns inhaltlich auf zwei Themenschwerpunkte beschränken:
a. Das Thema „Gute Arbeit als Grundlage für Leistungsgerechtigkeit“, zu dem ich bereits die inhaltlichen Ausführungen im ersten Teil meiner Rede erläutert habe.
b. Die „Initiative für Bildung und soziale Gerechtigkeit“, die die zentrale Kampagne „Bildungsaufbruch“ der Landtagsfraktion noch weiter in die Partei und die Öffentlichkeit trägt – denn wir müssen die soziale Auslese in unseren Schulen beenden und dafür sorgen, dass die Begabung des Kindes über die Bildungschancen entscheidet, nicht der Geldbeutel der Eltern.

Wir werden mit einer sozialpolitischen Charta den Diskurs über die dauerhafte Sicherung des sozialen Zusammenhalts in der Gesellschaft anstoßen. Verbände, gesellschaftliche Gruppen und nicht zuletzt die Kirchen sind für uns dabei wertvolle Partner. Es gilt, gerade im wohlhabenden Baden-Württem-berg, allen Menschen die Chance zum sozialen Aufstieg zu ermöglichen.

3. Mitglieder gewinnen und Mitglieder pflegen

Wir wollen wieder mehr Mitglieder gewinnen. Keine Rede eines Mandats- oder Funktionsträgers, ohne die Einladung zum Mitmachen! Keine Veröffentlichung eines Ortsvereins, Kreisverbands oder der Landes-SPD ohne Beitrittsformular! Und wir wollen sicherstellen, dass jedes neue Mitglied zeitnah willkommen geheißen und einbezogen wird. Wo dies über die Ortsvereine nicht geleistet werden kann, müssen Hauptamtliche, die die Eintritte verwalten, nachfassen und es muss dann die Kreisebene in Aktion treten.

Um den Mitgliedern mehr Möglichkeiten zur Mitsprache zu geben, wollen wir außerdem mit interessierten Kreisverbänden und Ortsvereinen einige Pilotprojekte zur direkten Mitgliederbeteiligung in inhaltlichen Fragen durchführen.

4. Schärfung des personellen Profils

Es ist und bleibt eine wichtige Aufgabe, Talente in unseren Reihen zu fördern. Ich weiß, dass ich einige richtiggehend verärgert habe, als ich kurz vor der Sommerpause beispielhaft einige Namen genannt habe, die in diesem Fall wichtige Arbeit für unsere Landtagsfraktion leisten. Aber ich sage deutlich, liebe Genossinnen und Genossen, auch diejenigen, die mal nicht genannt werden, müssen das aushalten! Wir haben doch nicht zuviel an profilierten Köpfen in der öffentlichen Wahrnehmung! Und ich will, dass jeder und jede stolz ist, wenn ein anderer öffentlich positiv in Erscheinung tritt – und dass wir den Reflex überwinden, immer nur zu denken: Warum steht jetzt der mit dem Thema in der Zeitung und nicht ich? Jeder und jede einzelne, der sich positiv mit einem Thema in Szene setzt, bewirkt Gutes für uns alle!

Liebe Genossen und liebe Genossinnen, Peter Kurz, unser neuer Mannheimer Oberbürgermeister, hat bei seiner Amtseinführung den Heidelberger Philosophen Hans-Georg Gadamer zitiert, der sagte: „Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte“.

Lasst uns die Debatte über den richtigen Weg der SPD Baden-Württemberg in diesem Sinne führen: Mit der Gelassenheit unterschiedliche Meinungen gelten zu lassen und nicht dogmatisch. Mit dem Wissen, dass jede Zeit Ihre eigenen Antworten braucht – und dass gute Antworten nur dann entstehen, wenn wir darauf hören, was andere sagen und nicht dadurch, dass wir Ihnen unlautere Absichten unterstellen.

Wir alle arbeiten für den Erfolg der SPD Baden-Württemberg. Wenn wir verschiedene Meinungen haben, wie dieser Erfolg zu erringen ist, dann ist das gute demokratische Tradition. Aber der Platz, das zur Sprache zu bringen, ist in der Partei. Hier auf dem Parteitag, in den nächsten Wochen und Monaten in den Ortsvereinen, Kreisverbänden, in den Gremien der Partei und in den Fraktionen. Liebe Genossinnen und Genossen: Hier – und nicht in den Medien und nicht über anonyme Botschaften oder gegenseitige Bosheiten!

Ich will hier deutlich unterscheiden, worum es geht. Ich habe Verständnis für diejenigen, die bei einer schlechten Stimmungslage in der Partei inhaltliche und personelle Verbesserungen fordern und sich dafür als Person einsetzen. Kreative Vorschläge sind stets willkommen. Es ist auch legitim, wenn die Partei Personaldiskussionen führt. Die Gremien und der Parteitag sind der Souverän, die dann darüber beraten und entscheiden. Ich rufe deshalb jeden auf, der Kritik oder alternative Vorschläge anbringen möchte, dies heute zu tun, hier und jetzt. Aus jeder offenen Diskussion, ob inhaltlich oder personell, wird die Partei gestärkt hervorgehen.

Denn wenn wir den Streit für unsere Ideen gewinnen wollen, dann geht das nur mit Frauen und Männern, die auch bereit sind, für Ihre Meinung einzutreten und hin zu stehen. Wer aber Heimlichtuerei zur parteiinternen Handlungsmaxime erklärt, wer keine Argumente hat, um seine Kritik zu begründen und wer nicht einmal den Mut besitzt, sich persönlich zu bekennen, wer also scheinheilig oder gar anonym den Weg in die Öffentlichkeit sucht, der fügt der Partei nur Schaden zu. Aber mit denjenigen, die nur im Hintergrund stark sind, wird unsere SPD – nicht im Land, nicht im Bund und übrigens auch in keiner Kommune – das Vertrauen der Menschen gewinnen! Und schon gar keine Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner!

Liebe Genossinnen und Genossen, auf dem Landesparteitag in Bühl hat Erhard Eppler uns zu einer Auseinandersetzung mit „Seriosität und menschlichem Anstand“ ermutigt. Nach dieser Devise wünsche ich mir eine offene und ehrliche Debatte. Und, liebe Genossinnen und Genossen, ich nehme für mich in Anspruch, dass ich ein Recht habe, zu erfahren, welcher Art die Vorbehalte sind, die einige über Sommer gegen meine Person formuliert haben. Und nicht nur ich habe dieses Recht, sondern auch dieser Parteitag.

Ich werbe dafür, dass Sachlichkeit und Offenheit auch in Zukunft die Grundlage unserer Arbeit bleiben, auch für diejenigen, die das vorübergehend vergessen haben. Ich werbe dafür, dass wir nach den Entscheidungen des Parteitags mit Geschlossenheit und Überzeugungskraft unsere politischen Ideen entwickeln, vermitteln und dort umsetzen können, wo wir die Macht dazu haben.

Ich werbe dafür, die Grundlagen zu schaffen, um selbstbewusst in die Wahlkämpfe gehen zu können und um selbstbewusst dem Gegner und den Bürgerinnen und Bürgern sagen zu können: Die SPD ist die Partei des Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit, die SPD ist das Original!

„Mit uns zieht die neue Zeit“, so singen wir gerne nach einem Parteitag. Beweisen wir es hier und heute! Glück auf!